Kanada lässt mich verzweifeln

Manchmal könnte ich Kanada glatt an die Wand nageln. Da passieren Dinge, die überfordern einfach meinen Verstand. Es darf doch nicht wahr sein, dass das zweitgrößte Land der Erde seine Teilnahme an der Expo 2012 in Südkorea abgesagt hat! Und damit bewusst darauf verzichtet, sich in einem wunderschönen Schaufenster zu präsentieren. Dafür degradiert man sich lieber vor den Augen der Welt zum Armenhaus.

Dampf ablassen, Teil I: Keine Kohle für die Weltausstellung

Der Grund für den Rückzieher? Kohle natürlich. Dabei hätte der Pavillon in Yeosu gerade mal 10 Millionen Dollar gekostet. Peanuts für ein Land, das wirtschaftlich am besten von allen G8-Nationen dasteht.

Kleinkariert: Premier Harper

Aber irgendwo müssen die 11 Milliarden ja eingespart werden, die Mister Harper bisher in Afghanistan verbuddelt hat. Und die 60 Millionen für Libyen auch. Und der Fünfeinhalb-Millionen-Dollar-Zaun, mit dem Demonstranten vom G8-Treffen in Toronto ferngehalten werden sollten. Nicht zu vergessen: Auch die Summe, die nötig ist, um Fregatten, Uniformen, Flugzeuge, Panzer und Briefpapier neu zu bepinseln und zu bedrucken, muss irgendwo eingespart werden. Unserem genialen Verteidigungsminister Peter McKay kam während der Sommerpause des Parlaments nämlich eine glorreiche Idee: Der Name fürs Militär wird geändert. Aus den Canadian Forces werden jetzt die Royal Canadian Air Force und die Royal Canadian Navy. Superwichtig! Vor allem aber superteuer. Übrigens gibt es bisher nur noch eine andere Nation, die ihre Teilnahme an der Weltausstellung aus Kostengründen zurückgezogen hat: Griechenland. Noch Fragen?

Dampf ablassen, Teil II:  48 Stunden Wartezeit in der Notaufnahme

Zwanzig Stunden warten Patienten im Durchschnitt, bis sie in den Notaufnahmestationen der Montréaler Krankenhäuser einen Arzt zu Gesicht bekommen. Eben höre ich auf CBC: 84 Menschen sitzen in dieser Sekunde seit mehr als 48 Stunden in den Emergency-Wartezimmern der Stadt, ohne behandelt worden zu sein. Aber es ist Hoffnung in Sicht:

Notfall Notaufnahme

Der Gesundheitsminister hat sich felsenfest vorgenommen, endlich die Wartezeiten zu reduzieren. Von 20 Stunden auf 12. Versprochen! Allerdings erst bis zum Jahr 2015. Kleines Schmankerl am Rande: Die „Montreal Gazette“ triumphierte vor ein paar Tagen mit der Schlagzeile: „Canada’s Health System Rocks!“ Das war kein Witz. Die Zeitung war wirklich der Meinung, das kanadische Gesundheitssystem sei Spitze. Wie kommt’s? Weil man sich in Kanada gerne mit den Losern vergleicht und nicht mit den Siegern. In diesem Fall hatte ein Gazette-Redakteur ausgerechnet das US-Gesundheitssystem auf den Prüfstand gestellt. Mein Gott, geht’s uns gut! Übrigens rechnete neulich ein anderer Journalist vor: In Afghanistan ist die ärztliche Betreuung in den Notaufnahmestationen der Hospitäler effizienter als in Kanada. Wäre nicht schlecht gewesen, wenn Mr. Harper erst einmal im eigenen (Kranken-)Haus für Ordnung gesorgt hätte.

Dampf ablassen, Teil III:  Mit dem Wasserschlauch gegen die Trauer

Trauer: Ex und hopp

Blog-Leser wissen es längst: In der vergangenen Woche ist Jack Layton gestorben. Er war – nicht nur meiner Meinung nach – der größte Politiker, den Kanada je hervorgebracht hat. „Smiling Jack“ wurde nur 61. Krebs. Die Reaktionen, die Laytons Tod von Küste zu Küste ausgelöst haben, waren phänomenal. Tausende standen stundenlang Schlange, um seinen Sarg zu berühren.  In Leserbriefen und Talkshows wird seit Tagen die Einzigartigkeit dieses ungewöhnlichen Mannes gepriesen. Am Fuße des Mont Royal stapelten sich schon wenige Stunden nach Laytons Tod Blumensträuße, Gedichte, handgemalte Posters und Kränze. Hunderte von Kerzen brannten. Menschen, die Jack Layton noch nie begegnet sind, sangen dessen Lieblingssongs zur Gitarre. Den ganzen Tag und einen Abend lang. Und was macht die Stadt Montréal? Rückt schon am nächsten Morgen um acht mit dem Spritzenwagen an und pustet alle Layton-Memorabilien weg. Es habe „ein bisschen schmuddelig“ ausgesehen, meinte der Pressesprecher der Stadtreinigung später.

Dampf ablassen, Teil IV:  Stromausfälle wie in Timbuktu

Während ich diese Zeilen schreibe, toben draußen die Ausläufer von Irene. Die Lichter flackern, zweimal schon ist mir der Rechner abgestürzt. Ich bin fast sicher: ein Stromausfall steht unmittelbar bevor. Hoffentlich nicht so schlimm wie 1998.

Eissturm '98: Nichts gelernt

Damals mussten hier Millionen Menschen tagelang, manche sogar wochenlang, im Dunkeln ausharren. Bei einem verheerenden Eissturm waren Elektromasten eingeknickt und Überlandleitungen gerissen. „Wird nie wieder passieren!“, tönte der staatliche Energieversorger Hydro Québec seinerzeit. Also butterte die Regierung zur Stabilisierung des Energie-Versorgungsystems ein paar Milliarden in das Unternehmen. Das war vor 13 Jahren. Und jetzt? Alle paar Monate sitzen wir garantiert für ein paar Stunden, manchmal auch länger, im Dunkeln. Die Überlandmasten sind bis heute nicht durch unterirdische Kabel ersetzt worden. Eisstürme gibt es immer noch. Und jetzt zu allem Übel noch ein Hurrikan namens Irene. Dann mal gute Nacht.

Wie gesagt: Manchmal könnte ich an Kanada verzweifeln. Aber vielleicht muss man ja auch nicht immer alles verstehen. Auch dann nicht, wenn man etwas lieb hat.

1. Mythos: Super Gesundheitssystem!

Leider nein. Das kanadische Gesundheitssystem ist krank. Es fehlen Ärzte, Krankenhäuser, Krankenhauspersonal. Ganz besonders bekommen dies die Bewohner der Provinz Québec zu spüren. Weil viele Absolventen der medizinischen Fakultäten nicht, wie vorgeschrieben, fließend zweisprachig englisch und französisch sind, bleibt immer mehr jungen Ärztinnen und Ärzten nichts anderes übrig als in anderen kanadischen Provinzen zu praktizieren. Oder, noch besser: In den USA. Dort mag zwar das Gesundheits-Versicherungssystem kranken, nicht aber die medizinische Versorgung. In Kanada ist es umgekehrt: Jeder Bewohner des Landes hat Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nur: Was nützt es, wie in meinem Fall, wenn ich wegen einer schmerzhaften Bänderzerrung am Knie keinen Arzt zu Gesicht bekomme? Meine Hausärztin ist vor kurzem in den Ruhestand gegangen. Einen neuen Hausarzt zu finden, ist so gut wie unmöglich. Das Boot ist voll, die Ärzte sind überlastet. Es fehlt – siehe oben – an Nachwuchs. Was also tun, wenn medizinische Versorgung dringend notwendig ist? Blieben zwei Möglichkeiten: Sogenannte „Walk-in-Clinics“ (WIC) oder die Notaufnahme in den Krankenhäusern. WIC’s operieren nicht rund um die Uhr und sind oft hoffnungslos überfüllt. Bliebe die Notaufnahme im Krankenhaus. Wirklich? Als ich neulich wegen meines Knies zur Emergency ging und nach sechs Stunden Wartezeit immer noch keinen Arzt zu Gesicht bekam, ging ich unverrichteter Dinge nach Hause. Gegen Mitternacht, nach SECHSSTÜNDIGEM Warten, kam eine freundliche Sekretärin und beschied den etwa 50 Frauen, Männern und Kindern im Saal, es könne noch weitere vier bis sechs Stunden dauern, bis wir an der Reihe sind. Der einzige diensthabende Notarzt sei mit Unfallpatienten beschäftigt. Ein gesundes Gesundheitssystem sieht anders aus