Kanada: Hoffen. Warten. Beten.

Patienten in der Notaufnahme eines Montréaler Krankenhauses. Foto: CBC

Rechtzeitig zu Weihnachten eine weitere Horrormeldung über das kanadische Gesundheitssystem: Eine Freundin von uns war im Sommer mit einem lebensbedrohlichen Aneurysma im Gehirn diagnostiziert worden. Das Blutgerinnsel müsste dringend operiert werden. Aber das kann noch dauern.

Ihr Neurologe, schreibt unsere Freundin, könne nur an einem Tag pro Woche operieren. Wann sie endlich an der Reihe sein wird, ist deshalb nicht abzusehen. Privatkliniken dürfen keine Risiko-OPs wie diese vornehmen. Für die Patientin bedeutet dies: Warten unter höchster Lebensgefahr. „Ich hoffe und bete“, schreibt mir die Freundin eben, „dass das Aneurysma nicht vor der Operation platzt“. Warten und beten – was ist das nur für ein System, das seine Menschen dazu zwingt, auf einer Zeitbombe zu sitzen?

Irgendetwas muss hier gewaltig schief gelaufen sein. Früher waren es kanadische UNO-Blauhelme, die weltweit als Friedensschützer gefeiert wurden. Heute wären viele Montréaler gut beraten, Helme zu tragen, damit sie nicht von einstürzenden Brücken, Unterführungen und Gebäuden erschlagen werden. Vor ein paar Stunden, dies nur nebenbei, musste wieder einmal eine der Montréaler Hauptdurchfahrtsstraßen teilweise gesperrt werden. Von einem Hochhaus waren Betonteile auf die Fahrbahn gefallen.

Warten auf den Facharzt: Späte Diagnose. Oder gar keine.

In meinem Freundeskreis kennt inzwischen jeder einen, der Opfer der katastrophalen Gesundheitspolitik geworden ist: Zu spät operiert, nicht rechtzeitig diagnostiziert. Oder gleich gar nicht bis zum Facharzt gekommen. Ich gehöre auch dazu. Seit Sommer warte ich auf einen Termin beim Schilddrüsen-Spezialisten.

Vancouver Hospital - Foto: Postmedia

In Québec mangelt es nicht etwa an Krankenhausbetten, davon gibt es jede Menge. Es fehlt an Ärzten und Pflegepersonal. Immer mehr Mediziner ziehen weg, in die USA oder nach Europa. Selbst in Kuba scheinen die Bedingungen besser zu sein als in Kanada, einem der reichsten Länder der Welt. Seitdem ich kanadisch denken kann, kränkelt das Gesundheitssystem.

Besonders schlimm ist es in Québec. Dabei ist es nicht nur die vergleichsweise schlechte Bezahlung, die Ärzte massenhaft in die Flucht treibt. Es sind vor allem die Arbeitsbedingungen. Equipment ist überholt oder schlichtweg nicht da. Dazu gehören Kernspinn-Scanner ebenso wie Labor-Ausrüstungen und zum Teil sogar simples OP-Besteck.

Ob reich oder arm spielt keine Rolle: Es ist kein Personal da

Im Radio habe ich neulich eine Reportage über ein Krankenhaus an der kanadischen Atlantikküste gehört. Ein vermögender Geschäftsmann hatte der Klinik aus eigener Tasche einen Kernspinn-Scanner gespendet. Jetzt setzt das 2.5 Millionen Dollar teure Gerät seit Monaten Staub an. Es ist kein Personal da, das die Magnetresonanz-Tomografie vornehmen könnte.

Wenn es um das Gesundheitssystem geht, haben viele Kanadier eine Schmerzresistenz entwickelt, die fast an Selbstaufgabe grenzt. Seltsam: Dass die meisten unserer Freunde keinen Hausarzt haben, scheint uns mehr zu stören als die Betroffenen selbst. Ob beten da noch hilft?

Das kranke Gesundheitssystem

Ich helfe gern. Ich spende auch gern. Kleider, Möbel, Spielzeug, Geld. Aber ich lasse mich ungern in die Pflicht nehmen. Ist es wirklich meine Aufgabe, Geld zu spenden, damit mein Krankenhaus einen neuen Cat-Scanner kaufen kann? Nein. Aber ich spende trotzdem. Sich dem moralischen Druck zu entziehen, der hier auf Spender ausgeübt wird, ist schwer.

John F. Kennedy hatte gut reden: „Ask not what your country can do for youask what you can do for your country“. Genau: Ich frage mich dauernd, was ich für mein Land tun kann. Für zwei Länder sogar. Als Mensch mit einem deutschen und einem kanadischen Pass fühle ich mich beiden Ländern gegenüber verpflichtet, mein Scherflein beizutragen. In Deutschland habe ich damit kein Problem. Ich finde, auch wenn die Meckerer Schlange stehen: Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert im Großen und Ganzen wunderbar.

Nicht so in Kanada. Hier krankt es. Und genau deshalb fällt es mir schwer, dem kanadischen System mit meinem sauer verdienten Geld noch weiter auf die Sprünge zu helfen. Beispiel: Ich warte seit drei Monaten auf einen simplen Schilddrüsen-Scan. Es gibt im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie das offizielle Kanada sich gerne selbst beweihräuchert, durchaus genügend Scanner. Viele davon übrigens mit Spenden finanziert. Ist es nicht Aufgabe des Staates, für Equipment, Personal und überhaupt für die ärztliche Versorgung seiner Menschen zu sorgen? Immerhin lebe ich in einer Provinz, die den höchsten Einkommenssteuersatz in ganz Nordamerika kassiert.

Auch Menschen, die so ein Gerät bedienen könnten, gibt es genug. Nur: Sie werden nicht eingesetzt, weil das Geld für ihre Bezahlung fehlt. Also warte ich. Und befinde mich damit in guter, aber trauriger Gesellschaft. Viele können nicht so lange warten wie ich.

Wartezeiten von mehr als einem Jahr für einen Termin beim Facharzt, sind hier nicht ungewöhnlich. Ist dann die Diagnose gestellt, kann es weitere sechs Monate dauern, bis die eigentliche Behandlung beginnen kann. Für manche kommt die Hilfe zu spät.

Foto: National PostIn den Notfallstationen der Montréaler Krankenhäuser beträgt die Wartezeit durchschnittlich 20 Stunden. Als neulich der Gesundheitsminister versprach, die Wartezeiten bis zum Jahr 2015 auf zwölf Stunden zu reduzieren, gab es Applaus von allen Seiten. Mir kommt das vor wie ein Hohn. Den meisten meiner kanadischen Freunde nicht. Sie sind stolz auf ihr System.

Ob, wenn und wann ich je in die Röhre komme, werden Sie zeitnah unter „Blog-Updates“ erfahren.

1. Mythos: Super Gesundheitssystem!

Leider nein. Das kanadische Gesundheitssystem ist krank. Es fehlen Ärzte, Krankenhäuser, Krankenhauspersonal. Ganz besonders bekommen dies die Bewohner der Provinz Québec zu spüren. Weil viele Absolventen der medizinischen Fakultäten nicht, wie vorgeschrieben, fließend zweisprachig englisch und französisch sind, bleibt immer mehr jungen Ärztinnen und Ärzten nichts anderes übrig als in anderen kanadischen Provinzen zu praktizieren. Oder, noch besser: In den USA. Dort mag zwar das Gesundheits-Versicherungssystem kranken, nicht aber die medizinische Versorgung. In Kanada ist es umgekehrt: Jeder Bewohner des Landes hat Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nur: Was nützt es, wie in meinem Fall, wenn ich wegen einer schmerzhaften Bänderzerrung am Knie keinen Arzt zu Gesicht bekomme? Meine Hausärztin ist vor kurzem in den Ruhestand gegangen. Einen neuen Hausarzt zu finden, ist so gut wie unmöglich. Das Boot ist voll, die Ärzte sind überlastet. Es fehlt – siehe oben – an Nachwuchs. Was also tun, wenn medizinische Versorgung dringend notwendig ist? Blieben zwei Möglichkeiten: Sogenannte „Walk-in-Clinics“ (WIC) oder die Notaufnahme in den Krankenhäusern. WIC’s operieren nicht rund um die Uhr und sind oft hoffnungslos überfüllt. Bliebe die Notaufnahme im Krankenhaus. Wirklich? Als ich neulich wegen meines Knies zur Emergency ging und nach sechs Stunden Wartezeit immer noch keinen Arzt zu Gesicht bekam, ging ich unverrichteter Dinge nach Hause. Gegen Mitternacht, nach SECHSSTÜNDIGEM Warten, kam eine freundliche Sekretärin und beschied den etwa 50 Frauen, Männern und Kindern im Saal, es könne noch weitere vier bis sechs Stunden dauern, bis wir an der Reihe sind. Der einzige diensthabende Notarzt sei mit Unfallpatienten beschäftigt. Ein gesundes Gesundheitssystem sieht anders aus