Zeit für ein bisschen Demut

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Nicht immer geht es auf der Überholspur durchs Leben. Manchmal wirst du ausgebremst und du lernst die Kunst der Entschleunigung kennen. Zwangsweise. So wie jetzt.

Ein chirurgischer Eingriff – Nase, Stirnhöhle – nichts Lebensbedrohliches, aber ernst genug, um dich nach der Vollnarkose ins Bett zu zwingen. Und damit zum Nachdenken.

Zum Beispiel darüber, was Männer und Frauen so leisten, die im Krankenhaus arbeiten. Menschen, die auch beim Anblick von Bettpfannen und schmutzigen Leintüchern noch ein Lächeln über die Lippen bringen, wenn nur der richtige Knopf gedrückt wird.

Ärzte, die klaglos jede Frage beantworten, die du ihnen stellst. Pfleger, denen kein Weg zu weit ist, um dir einen Rollstuhl ans Bett zu schieben, weil deine ohnehin eingeschränkte Mobilität sonst zum vollkommenen Stillstand kommen würde.

Putzkolonnen, denen Tag für Tag eingetrichtert wird, dass Hygiene im Krankenhaus weniger mit schön aussehen zu tun hat als mit Leben und Tod.

Aber auch das ist ein Teil des oft zurecht kritisierten kanadischen Gesundheitswesens: Kaum wachst du aus der Vollnarkose auf, wirst du nach Hause geschickt. „Metzgerei Montreal“, lästert ein vom deutschen Krankensystem verwöhnter Freund. „Bettenmangel“ lautet die offizielle Begründung in Kanada.

Wer das Glück hat, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus im eigenen Heim weiter gepflegt zu werden, hat erst recht keinen Grund zum Jammern. Schokoriegel, wo sonst ein Joghurt wartet. Säfte zwar statt Sekt, aber wen juckt’s. „Darf’s noch ein Tässchen Tee sein?“.

Auch hier: Dankbarkeit und auch ein bisschen Demut.

Und dann die Entdeckung schlechthin: Fernsehen! Wer im Internet wohnt, vergisst manchmal, dass es noch andere Bespassungs-Medien gibt. Zum Beispiel den TV-on-demand-Sender NETFLIX. „Dexter“ gefällig? Kein Problem. Wenn’s sein muss drei Jahrgänge hintereinander. Eine Michael-Jackson-Biografie? Aber bitteschön. Oder doch lieber John Lennons letzte Tage in New York?

Mad Men“ und „Homeland“ waren gestern. Im Krankenbett entdeckt und seither süchtig danach: „Orange ist the new Black“. So also geht’s in amerikanischen Frauengefängnissen zu!

Dann schon lieber Krankenhaus. Oder noch besser: Genesung in den eigenen vier Wänden.

Danke!

Das kranke Gesundheitssystem

Ich helfe gern. Ich spende auch gern. Kleider, Möbel, Spielzeug, Geld. Aber ich lasse mich ungern in die Pflicht nehmen. Ist es wirklich meine Aufgabe, Geld zu spenden, damit mein Krankenhaus einen neuen Cat-Scanner kaufen kann? Nein. Aber ich spende trotzdem. Sich dem moralischen Druck zu entziehen, der hier auf Spender ausgeübt wird, ist schwer.

John F. Kennedy hatte gut reden: „Ask not what your country can do for youask what you can do for your country“. Genau: Ich frage mich dauernd, was ich für mein Land tun kann. Für zwei Länder sogar. Als Mensch mit einem deutschen und einem kanadischen Pass fühle ich mich beiden Ländern gegenüber verpflichtet, mein Scherflein beizutragen. In Deutschland habe ich damit kein Problem. Ich finde, auch wenn die Meckerer Schlange stehen: Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert im Großen und Ganzen wunderbar.

Nicht so in Kanada. Hier krankt es. Und genau deshalb fällt es mir schwer, dem kanadischen System mit meinem sauer verdienten Geld noch weiter auf die Sprünge zu helfen. Beispiel: Ich warte seit drei Monaten auf einen simplen Schilddrüsen-Scan. Es gibt im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie das offizielle Kanada sich gerne selbst beweihräuchert, durchaus genügend Scanner. Viele davon übrigens mit Spenden finanziert. Ist es nicht Aufgabe des Staates, für Equipment, Personal und überhaupt für die ärztliche Versorgung seiner Menschen zu sorgen? Immerhin lebe ich in einer Provinz, die den höchsten Einkommenssteuersatz in ganz Nordamerika kassiert.

Auch Menschen, die so ein Gerät bedienen könnten, gibt es genug. Nur: Sie werden nicht eingesetzt, weil das Geld für ihre Bezahlung fehlt. Also warte ich. Und befinde mich damit in guter, aber trauriger Gesellschaft. Viele können nicht so lange warten wie ich.

Wartezeiten von mehr als einem Jahr für einen Termin beim Facharzt, sind hier nicht ungewöhnlich. Ist dann die Diagnose gestellt, kann es weitere sechs Monate dauern, bis die eigentliche Behandlung beginnen kann. Für manche kommt die Hilfe zu spät.

Foto: National PostIn den Notfallstationen der Montréaler Krankenhäuser beträgt die Wartezeit durchschnittlich 20 Stunden. Als neulich der Gesundheitsminister versprach, die Wartezeiten bis zum Jahr 2015 auf zwölf Stunden zu reduzieren, gab es Applaus von allen Seiten. Mir kommt das vor wie ein Hohn. Den meisten meiner kanadischen Freunde nicht. Sie sind stolz auf ihr System.

Ob, wenn und wann ich je in die Röhre komme, werden Sie zeitnah unter „Blog-Updates“ erfahren.

1. Mythos: Super Gesundheitssystem!

Leider nein. Das kanadische Gesundheitssystem ist krank. Es fehlen Ärzte, Krankenhäuser, Krankenhauspersonal. Ganz besonders bekommen dies die Bewohner der Provinz Québec zu spüren. Weil viele Absolventen der medizinischen Fakultäten nicht, wie vorgeschrieben, fließend zweisprachig englisch und französisch sind, bleibt immer mehr jungen Ärztinnen und Ärzten nichts anderes übrig als in anderen kanadischen Provinzen zu praktizieren. Oder, noch besser: In den USA. Dort mag zwar das Gesundheits-Versicherungssystem kranken, nicht aber die medizinische Versorgung. In Kanada ist es umgekehrt: Jeder Bewohner des Landes hat Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nur: Was nützt es, wie in meinem Fall, wenn ich wegen einer schmerzhaften Bänderzerrung am Knie keinen Arzt zu Gesicht bekomme? Meine Hausärztin ist vor kurzem in den Ruhestand gegangen. Einen neuen Hausarzt zu finden, ist so gut wie unmöglich. Das Boot ist voll, die Ärzte sind überlastet. Es fehlt – siehe oben – an Nachwuchs. Was also tun, wenn medizinische Versorgung dringend notwendig ist? Blieben zwei Möglichkeiten: Sogenannte „Walk-in-Clinics“ (WIC) oder die Notaufnahme in den Krankenhäusern. WIC’s operieren nicht rund um die Uhr und sind oft hoffnungslos überfüllt. Bliebe die Notaufnahme im Krankenhaus. Wirklich? Als ich neulich wegen meines Knies zur Emergency ging und nach sechs Stunden Wartezeit immer noch keinen Arzt zu Gesicht bekam, ging ich unverrichteter Dinge nach Hause. Gegen Mitternacht, nach SECHSSTÜNDIGEM Warten, kam eine freundliche Sekretärin und beschied den etwa 50 Frauen, Männern und Kindern im Saal, es könne noch weitere vier bis sechs Stunden dauern, bis wir an der Reihe sind. Der einzige diensthabende Notarzt sei mit Unfallpatienten beschäftigt. Ein gesundes Gesundheitssystem sieht anders aus