21 Stunden in der Notaufnahme

Wer in diesen Tagen das Pech hat, in der Notaufnahme eines der zahlreichen Montrealer Krankenhäuser zu landen, muss sich auf noch längere Wartezeiten einstellen als bisher: durchschnittlich 21 Stunden.

Dabei hatte das Gesundheitsministerium sich noch im vorigen Jahr damit gebrüstet, die Wartezeiten drastisch verkürzen zu wollen. Es war von durchschnittlich zwölf Stunden die Rede. Schon das wäre bei dem maroden Gesundheitssystem eine Glanzleistung gewesen. So bescheiden ist man hier schon geworden. Doch statt die Wartezeiten zu reduzieren, werden die Schlangen vor den Krankenhäusern immer länger. Das hat verschiedene Gründe, von denen hier im Blog schon mehrfach die Rede war.

Notaufnahmestation in Montreal Foto: CBC

Einer davon: Es fehlt nach wie vor an Personal. Während sich die Leute in der Verwaltung gegenseitig auf die Füße treten, werden dringend Fachkräfte im medizinischen Bereich gebraucht: Ärzte und Krankenschwestern, Laborhelferinnen und Röntgologen, Physiotherapeuten. Männer und Frauen eben, die mit anpacken. Nicht solche, die Origami aus Altpapier machen und aus Büroklammern lustige Figürchen. Pardon, aber Sesselfurzer gibt es viel zu viele. Diese Diskrepanz ist dadurch zu erklären, dass viele Mediziner lieber südlich der Grenze, in den USA, arbeiten. Dort finden sie bessere Arbeitsbedingungen vor, auch besseres Equipment. Vor allem aber werden sie besser bezahlt.

So verquer ist das Gesundheitssystem hierzulande, dass die Regierung von Quebec nicht etwa die Verantwortlichen der Krankenhausverwaltung belohnt, wenn sie es fertigbringen, die Wartezeiten zu reduzieren und den Service zu verbessern. Das Gegenteil ist der Fall. Eben lese ich auf der Internetseite der Canadian Broadcasting Corporation (CBC), dass die Regierung den Verwaltungs-Chefs Sonderzahlungen gewährt, wenn sie es schaffen, das Budget zu senken. Dies ist freilich nur durch verminderte Leistungen und eine immer dünner werdende Personaldecke möglich. Ein Skandal. Und dazuhin menschenfeindlich.

Interessanterweise lässt dieser Skandal die meisten Menschen hier ziemlich kalt. Dass sich der Wutfaktor in Grenzen hält, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass den meisten schlichtweg der Vergleich mit funktionierenden Systemen fehlt. Zum Beispiel mit dem deutschen. Schließlich ist der Großteil der Bevölkerung noch nie in den Genuss eines Gesundheitssystems gekommen, das diesem in seiner Großzügigkeit auch nur annähernd ähnelt. Kein Wunder dürfen kanadische Politiker seit Jahren ungestraft die Mähr vom angeblich „besten Gesundheitssystem der Welt“ verbreiten.

Wenn Sie in Deutschland also beim nächsten Mal auf die Rezeptgebühr schimpfen oder wegen sonstiger Zuzahlungen sauer sind, legen Sie einfach mal ein paar Gedenksekunden für all die Kanadier ein, die in diesem Moment seit 20 Stunden oder mehr in der Notaufnahmestation irgend eines Krankenhauses darauf warten, überhaupt einen Arzt zu Gesicht zu bekommen. Dass bis zum Facharzttermin anschließend noch Monate vergehen können, ist dann wieder ein Kapitel für sich.

Das kranke Gesundheitssystem

Ich helfe gern. Ich spende auch gern. Kleider, Möbel, Spielzeug, Geld. Aber ich lasse mich ungern in die Pflicht nehmen. Ist es wirklich meine Aufgabe, Geld zu spenden, damit mein Krankenhaus einen neuen Cat-Scanner kaufen kann? Nein. Aber ich spende trotzdem. Sich dem moralischen Druck zu entziehen, der hier auf Spender ausgeübt wird, ist schwer.

John F. Kennedy hatte gut reden: „Ask not what your country can do for youask what you can do for your country“. Genau: Ich frage mich dauernd, was ich für mein Land tun kann. Für zwei Länder sogar. Als Mensch mit einem deutschen und einem kanadischen Pass fühle ich mich beiden Ländern gegenüber verpflichtet, mein Scherflein beizutragen. In Deutschland habe ich damit kein Problem. Ich finde, auch wenn die Meckerer Schlange stehen: Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert im Großen und Ganzen wunderbar.

Nicht so in Kanada. Hier krankt es. Und genau deshalb fällt es mir schwer, dem kanadischen System mit meinem sauer verdienten Geld noch weiter auf die Sprünge zu helfen. Beispiel: Ich warte seit drei Monaten auf einen simplen Schilddrüsen-Scan. Es gibt im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie das offizielle Kanada sich gerne selbst beweihräuchert, durchaus genügend Scanner. Viele davon übrigens mit Spenden finanziert. Ist es nicht Aufgabe des Staates, für Equipment, Personal und überhaupt für die ärztliche Versorgung seiner Menschen zu sorgen? Immerhin lebe ich in einer Provinz, die den höchsten Einkommenssteuersatz in ganz Nordamerika kassiert.

Auch Menschen, die so ein Gerät bedienen könnten, gibt es genug. Nur: Sie werden nicht eingesetzt, weil das Geld für ihre Bezahlung fehlt. Also warte ich. Und befinde mich damit in guter, aber trauriger Gesellschaft. Viele können nicht so lange warten wie ich.

Wartezeiten von mehr als einem Jahr für einen Termin beim Facharzt, sind hier nicht ungewöhnlich. Ist dann die Diagnose gestellt, kann es weitere sechs Monate dauern, bis die eigentliche Behandlung beginnen kann. Für manche kommt die Hilfe zu spät.

Foto: National PostIn den Notfallstationen der Montréaler Krankenhäuser beträgt die Wartezeit durchschnittlich 20 Stunden. Als neulich der Gesundheitsminister versprach, die Wartezeiten bis zum Jahr 2015 auf zwölf Stunden zu reduzieren, gab es Applaus von allen Seiten. Mir kommt das vor wie ein Hohn. Den meisten meiner kanadischen Freunde nicht. Sie sind stolz auf ihr System.

Ob, wenn und wann ich je in die Röhre komme, werden Sie zeitnah unter „Blog-Updates“ erfahren.

1. Mythos: Super Gesundheitssystem!

Leider nein. Das kanadische Gesundheitssystem ist krank. Es fehlen Ärzte, Krankenhäuser, Krankenhauspersonal. Ganz besonders bekommen dies die Bewohner der Provinz Québec zu spüren. Weil viele Absolventen der medizinischen Fakultäten nicht, wie vorgeschrieben, fließend zweisprachig englisch und französisch sind, bleibt immer mehr jungen Ärztinnen und Ärzten nichts anderes übrig als in anderen kanadischen Provinzen zu praktizieren. Oder, noch besser: In den USA. Dort mag zwar das Gesundheits-Versicherungssystem kranken, nicht aber die medizinische Versorgung. In Kanada ist es umgekehrt: Jeder Bewohner des Landes hat Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nur: Was nützt es, wie in meinem Fall, wenn ich wegen einer schmerzhaften Bänderzerrung am Knie keinen Arzt zu Gesicht bekomme? Meine Hausärztin ist vor kurzem in den Ruhestand gegangen. Einen neuen Hausarzt zu finden, ist so gut wie unmöglich. Das Boot ist voll, die Ärzte sind überlastet. Es fehlt – siehe oben – an Nachwuchs. Was also tun, wenn medizinische Versorgung dringend notwendig ist? Blieben zwei Möglichkeiten: Sogenannte „Walk-in-Clinics“ (WIC) oder die Notaufnahme in den Krankenhäusern. WIC’s operieren nicht rund um die Uhr und sind oft hoffnungslos überfüllt. Bliebe die Notaufnahme im Krankenhaus. Wirklich? Als ich neulich wegen meines Knies zur Emergency ging und nach sechs Stunden Wartezeit immer noch keinen Arzt zu Gesicht bekam, ging ich unverrichteter Dinge nach Hause. Gegen Mitternacht, nach SECHSSTÜNDIGEM Warten, kam eine freundliche Sekretärin und beschied den etwa 50 Frauen, Männern und Kindern im Saal, es könne noch weitere vier bis sechs Stunden dauern, bis wir an der Reihe sind. Der einzige diensthabende Notarzt sei mit Unfallpatienten beschäftigt. Ein gesundes Gesundheitssystem sieht anders aus