Hilferuf einer Ärztin: Machtlos!

Screenshot ©CTV

Neues aus der Warteschlange: Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind und dringend eine Operation benötigen, müssen zurzeit mit einer Wartezeit von drei Monaten rechnen. Vorher ist in Québec nichts zu machen. „Uns fehlen OP-Räume, Ärzte und Krankenschwestern“, klagt die Chirurgin Dr. Dominique Synott in einem Interview mit dem Fernsehsender CTV

„Tag für Tag muss ich verzweifelte Frauen vertrösten“, sagt die Ärztin, „aber was soll ich denn machen?“ Ihr seien die Hände gebunden, das Gesundheitssystem der Provinz Québec sei nun mal wie es ist. „Wir sind machtlos“.

Ärztemangel, Geldverschwendung, Korruption – das alles hat dazu beigetragen, dass in diesem Teil Kanadas Zustände herrschen, die schlimmer sind als in manchen Drittwelt-Ländern. Aber die meisten Kanadier, die ich kenne, sind leidensfähig bis zur Selbstaufgabe. Man akzeptiert die Situation wie sie ist. Und vergleicht sich immer gerne mit den Schlechteren und nicht den Klassenbesten. Motto: „In den USA wären die Frauen froh, wenn sie nach drei Monaten überhaupt einen Arzt zu Gesicht bekämen“.

Besonders frustrierend: Das Geld ist da, jede Menge davon. Die Staatskassen sind prall gefüllt. Nur erreicht die Kohle nicht den Kunden, also den Patienten, sondern bleibt irgendwo in der administrativen Pipeline hängen.

Oder wird für wichtigere Dinge verprasst. Zum Beispiel für die Sprachenpolitik. Die „language police“ in der von Separatisten regierten Provinz Québec soll wieder einmal aufgestockt werden. Das ist die Behörde, die darauf achtet, dass die französischsprachige Auszeichnung von Produkten doppelt so groß ist wie die englische.

Schon klar. Was gibt es Wichtigeres als „Smoked Meat“ mit „Viande Fumée“ zu übersetzen? Oder eine Firma zu verklagen, die auf dem „e“ keinen accent d’aigue (é) haben möchte. Schwachsinn.

Theoretisch könnten die Separatisten schon bald wieder abgelöst werden. Sollte es bei der Verabschiedung des Haushaltes Ende des Monats zum Misstrauensvotum kommen, hätte die Minderheitsregierung der Parti Québecois ausgedient. Doof nur: Die einzige Partei, der man die Regierungsgeschäfte zutrauen möchte, steht im Moment führerlos da. Seit der verlorenen Wahl im Spätsommer hatten die Liberalen Wichtigeres zu tun als einen neuen Vorsitzenden zu wählen.

So gesehen stimmt es schon: Jedes Land hat die Regierung, die es verdient.

PS: Interessant in diesem Zusammenhang auch die Zuschrift des Blog-Lesers „Florian“ aus Montreal.

Kanada: Bleiben oder gehen?

Ein junger Deutscher in Montreal, nennen wir ihn Florian, hatte den Canada-Blog gelesen und höflich angefragt, ob wir uns mal treffen könnten. Es passte. Bei Juliette & Chocolat haben wir über das Leben in Kanada geredet, über die Korruption in Quebec und auch darüber, was für eine coole Stadt Montreal ist. Auch von Heimweh war viel die Rede.

Florian war 24, als er nach Kanada kam. Genau so alt wie ich, als ich 1973 in Winnipeg landete. Heute ist Florian 27 und hadert mit seinem Gastland. Auch ich war 27, als ich drei Jahre nach meiner Einreise wieder nach Deutschland zurück gegangen bin, nur um vier Jahre später schon wieder bei den kanadischen Einwanderungsbehörden anzuklopfen. Ich war verwirrt.

Florian: „Integriert und irgendwie angekommen“

Auch Florian ist verwirrt. Und ein bisschen verzweifelt: „Ich habe einen guten Job“, schrieb er mir im Vorfeld unseres Treffens, „eine Freundin, ein relativ neues Auto und auch schon etwas Geld für mein zukünftiges Haus auf der Seite“. Deutsche Freunde und Bekanntschaften habe er kaum, schließlich spreche er fließend Französisch und Englisch, isoliert fühle er sich kein bisschen. „Super, man würde also meinen, ich sei integriert, irgendwie angekommen“.

Alles, was er in seiner Mail schon geschrieben hatte, sprudelt ein paar Tage später auch bei „Juliette & Chocolat“ wieder aus ihm heraus. Drei Jahre lang habe er über die Korruption in Quebec hinweggesehen, über „Land unter“, wenn mal wieder ein bisschen Regen fällt und über bröckelnde Brücken und Straßen.

Kein Canada-Bashing, nur die Wahrheit

„Sie sprechen mir aus der Seele“ schreibt und sagt Florian, „jede Ihrer Erfahrungen kann ich teilen“. Canada-Bashing liegt Florian fern, im Gegenteil: „Ich liebe die Landschaft, die Entspanntheit der Leute. Die Möglichkeit, von einem Tag auf den anderen den Job wechseln zu können, Aufstiegschancen zu haben. Zwei Stunden mit dem Auto zu fahren, und am Lac Mont Tremblant den wundervollen Herbst genießen zu können“.

Doch dann kommt der Augenöffner: „Als mir das Ausmaß der Missorganistion im Gesundheitssystem begreiflich wird … Wo ich das erste Mal zum Zahnarzt, Hautarzt, oder zum Generalisten muss. Wo ich eine Notfallaufnahme gesehen habe, und die „besseren“ Krankenhäuser … da wird mir ganz anders. Ich dachte immer, alles sei im Leben für mich verhandelbar. Meine Rente, meine Sicherheit, mein Gehalt. Nur bei meiner Gesundheit, da hört es für mich auf. Ich habe Angst“.

Er habe in Frankreich gelebt und in Polen. Einer seiner Kollegen sei Ukrainer. „Es mag in Osteuropa genug Probleme geben“, sagt Florian, „das Gesundheitssystem gehört definitiv nicht dazu“.

Unverständnis bei den Freunden

„Ich schreibe Ihnen, weil ich Hilfe brauche“. Er habe das Gefühl, dass niemand seine Probleme verstehen könne. „Meine Freunde aus Quebec verstehen mich nicht, weil sie kein besseres Gesundheitssystem kennen, keine besseren Straßen. Meine anderen europäischen Freunde hier verstehen mich nicht, weil sie nicht aus Deutschland kommen“. Der Blogger, meint Florian, müsse es blicken.

Die Enttäuschung über das Gesundheitssystem und über vieles andere lasse ihn daran zweifeln, ob er hier eine Familie gründen möchte.

„Letztlich wende ich mich Ihnen aus der Verzweiflung heraus zu, an einem Scheideweg zu stehen. Vielleicht können wir uns ja auch auf einen Kaffee treffen“.

Die neue Heimat auf dem Prüfstand

Den Kaffee haben wir zusammen getrunken. Florians Frustration, seine Zweifel an seiner Entscheidung und auch an der neuen Heimat Quebec – das alles konnte ich ihm nicht nehmen. Wir sind beide der Meinung, Quebec-Bashing könne nicht die Antwort sein. Und doch kommt man als Auswanderer nicht umhin, die neue Heimat hin und wieder auf den Prüfstand zu stellen. Mehr nicht.

21 Stunden in der Notaufnahme

Wer in diesen Tagen das Pech hat, in der Notaufnahme eines der zahlreichen Montrealer Krankenhäuser zu landen, muss sich auf noch längere Wartezeiten einstellen als bisher: durchschnittlich 21 Stunden.

Dabei hatte das Gesundheitsministerium sich noch im vorigen Jahr damit gebrüstet, die Wartezeiten drastisch verkürzen zu wollen. Es war von durchschnittlich zwölf Stunden die Rede. Schon das wäre bei dem maroden Gesundheitssystem eine Glanzleistung gewesen. So bescheiden ist man hier schon geworden. Doch statt die Wartezeiten zu reduzieren, werden die Schlangen vor den Krankenhäusern immer länger. Das hat verschiedene Gründe, von denen hier im Blog schon mehrfach die Rede war.

Notaufnahmestation in Montreal Foto: CBC

Einer davon: Es fehlt nach wie vor an Personal. Während sich die Leute in der Verwaltung gegenseitig auf die Füße treten, werden dringend Fachkräfte im medizinischen Bereich gebraucht: Ärzte und Krankenschwestern, Laborhelferinnen und Röntgologen, Physiotherapeuten. Männer und Frauen eben, die mit anpacken. Nicht solche, die Origami aus Altpapier machen und aus Büroklammern lustige Figürchen. Pardon, aber Sesselfurzer gibt es viel zu viele. Diese Diskrepanz ist dadurch zu erklären, dass viele Mediziner lieber südlich der Grenze, in den USA, arbeiten. Dort finden sie bessere Arbeitsbedingungen vor, auch besseres Equipment. Vor allem aber werden sie besser bezahlt.

So verquer ist das Gesundheitssystem hierzulande, dass die Regierung von Quebec nicht etwa die Verantwortlichen der Krankenhausverwaltung belohnt, wenn sie es fertigbringen, die Wartezeiten zu reduzieren und den Service zu verbessern. Das Gegenteil ist der Fall. Eben lese ich auf der Internetseite der Canadian Broadcasting Corporation (CBC), dass die Regierung den Verwaltungs-Chefs Sonderzahlungen gewährt, wenn sie es schaffen, das Budget zu senken. Dies ist freilich nur durch verminderte Leistungen und eine immer dünner werdende Personaldecke möglich. Ein Skandal. Und dazuhin menschenfeindlich.

Interessanterweise lässt dieser Skandal die meisten Menschen hier ziemlich kalt. Dass sich der Wutfaktor in Grenzen hält, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass den meisten schlichtweg der Vergleich mit funktionierenden Systemen fehlt. Zum Beispiel mit dem deutschen. Schließlich ist der Großteil der Bevölkerung noch nie in den Genuss eines Gesundheitssystems gekommen, das diesem in seiner Großzügigkeit auch nur annähernd ähnelt. Kein Wunder dürfen kanadische Politiker seit Jahren ungestraft die Mähr vom angeblich „besten Gesundheitssystem der Welt“ verbreiten.

Wenn Sie in Deutschland also beim nächsten Mal auf die Rezeptgebühr schimpfen oder wegen sonstiger Zuzahlungen sauer sind, legen Sie einfach mal ein paar Gedenksekunden für all die Kanadier ein, die in diesem Moment seit 20 Stunden oder mehr in der Notaufnahmestation irgend eines Krankenhauses darauf warten, überhaupt einen Arzt zu Gesicht zu bekommen. Dass bis zum Facharzttermin anschließend noch Monate vergehen können, ist dann wieder ein Kapitel für sich.

Kanada: Hoffen. Warten. Beten.

Patienten in der Notaufnahme eines Montréaler Krankenhauses. Foto: CBC

Rechtzeitig zu Weihnachten eine weitere Horrormeldung über das kanadische Gesundheitssystem: Eine Freundin von uns war im Sommer mit einem lebensbedrohlichen Aneurysma im Gehirn diagnostiziert worden. Das Blutgerinnsel müsste dringend operiert werden. Aber das kann noch dauern.

Ihr Neurologe, schreibt unsere Freundin, könne nur an einem Tag pro Woche operieren. Wann sie endlich an der Reihe sein wird, ist deshalb nicht abzusehen. Privatkliniken dürfen keine Risiko-OPs wie diese vornehmen. Für die Patientin bedeutet dies: Warten unter höchster Lebensgefahr. „Ich hoffe und bete“, schreibt mir die Freundin eben, „dass das Aneurysma nicht vor der Operation platzt“. Warten und beten – was ist das nur für ein System, das seine Menschen dazu zwingt, auf einer Zeitbombe zu sitzen?

Irgendetwas muss hier gewaltig schief gelaufen sein. Früher waren es kanadische UNO-Blauhelme, die weltweit als Friedensschützer gefeiert wurden. Heute wären viele Montréaler gut beraten, Helme zu tragen, damit sie nicht von einstürzenden Brücken, Unterführungen und Gebäuden erschlagen werden. Vor ein paar Stunden, dies nur nebenbei, musste wieder einmal eine der Montréaler Hauptdurchfahrtsstraßen teilweise gesperrt werden. Von einem Hochhaus waren Betonteile auf die Fahrbahn gefallen.

Warten auf den Facharzt: Späte Diagnose. Oder gar keine.

In meinem Freundeskreis kennt inzwischen jeder einen, der Opfer der katastrophalen Gesundheitspolitik geworden ist: Zu spät operiert, nicht rechtzeitig diagnostiziert. Oder gleich gar nicht bis zum Facharzt gekommen. Ich gehöre auch dazu. Seit Sommer warte ich auf einen Termin beim Schilddrüsen-Spezialisten.

Vancouver Hospital - Foto: Postmedia

In Québec mangelt es nicht etwa an Krankenhausbetten, davon gibt es jede Menge. Es fehlt an Ärzten und Pflegepersonal. Immer mehr Mediziner ziehen weg, in die USA oder nach Europa. Selbst in Kuba scheinen die Bedingungen besser zu sein als in Kanada, einem der reichsten Länder der Welt. Seitdem ich kanadisch denken kann, kränkelt das Gesundheitssystem.

Besonders schlimm ist es in Québec. Dabei ist es nicht nur die vergleichsweise schlechte Bezahlung, die Ärzte massenhaft in die Flucht treibt. Es sind vor allem die Arbeitsbedingungen. Equipment ist überholt oder schlichtweg nicht da. Dazu gehören Kernspinn-Scanner ebenso wie Labor-Ausrüstungen und zum Teil sogar simples OP-Besteck.

Ob reich oder arm spielt keine Rolle: Es ist kein Personal da

Im Radio habe ich neulich eine Reportage über ein Krankenhaus an der kanadischen Atlantikküste gehört. Ein vermögender Geschäftsmann hatte der Klinik aus eigener Tasche einen Kernspinn-Scanner gespendet. Jetzt setzt das 2.5 Millionen Dollar teure Gerät seit Monaten Staub an. Es ist kein Personal da, das die Magnetresonanz-Tomografie vornehmen könnte.

Wenn es um das Gesundheitssystem geht, haben viele Kanadier eine Schmerzresistenz entwickelt, die fast an Selbstaufgabe grenzt. Seltsam: Dass die meisten unserer Freunde keinen Hausarzt haben, scheint uns mehr zu stören als die Betroffenen selbst. Ob beten da noch hilft?

Das kranke Gesundheitssystem

Ich helfe gern. Ich spende auch gern. Kleider, Möbel, Spielzeug, Geld. Aber ich lasse mich ungern in die Pflicht nehmen. Ist es wirklich meine Aufgabe, Geld zu spenden, damit mein Krankenhaus einen neuen Cat-Scanner kaufen kann? Nein. Aber ich spende trotzdem. Sich dem moralischen Druck zu entziehen, der hier auf Spender ausgeübt wird, ist schwer.

John F. Kennedy hatte gut reden: „Ask not what your country can do for youask what you can do for your country“. Genau: Ich frage mich dauernd, was ich für mein Land tun kann. Für zwei Länder sogar. Als Mensch mit einem deutschen und einem kanadischen Pass fühle ich mich beiden Ländern gegenüber verpflichtet, mein Scherflein beizutragen. In Deutschland habe ich damit kein Problem. Ich finde, auch wenn die Meckerer Schlange stehen: Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert im Großen und Ganzen wunderbar.

Nicht so in Kanada. Hier krankt es. Und genau deshalb fällt es mir schwer, dem kanadischen System mit meinem sauer verdienten Geld noch weiter auf die Sprünge zu helfen. Beispiel: Ich warte seit drei Monaten auf einen simplen Schilddrüsen-Scan. Es gibt im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie das offizielle Kanada sich gerne selbst beweihräuchert, durchaus genügend Scanner. Viele davon übrigens mit Spenden finanziert. Ist es nicht Aufgabe des Staates, für Equipment, Personal und überhaupt für die ärztliche Versorgung seiner Menschen zu sorgen? Immerhin lebe ich in einer Provinz, die den höchsten Einkommenssteuersatz in ganz Nordamerika kassiert.

Auch Menschen, die so ein Gerät bedienen könnten, gibt es genug. Nur: Sie werden nicht eingesetzt, weil das Geld für ihre Bezahlung fehlt. Also warte ich. Und befinde mich damit in guter, aber trauriger Gesellschaft. Viele können nicht so lange warten wie ich.

Wartezeiten von mehr als einem Jahr für einen Termin beim Facharzt, sind hier nicht ungewöhnlich. Ist dann die Diagnose gestellt, kann es weitere sechs Monate dauern, bis die eigentliche Behandlung beginnen kann. Für manche kommt die Hilfe zu spät.

Foto: National PostIn den Notfallstationen der Montréaler Krankenhäuser beträgt die Wartezeit durchschnittlich 20 Stunden. Als neulich der Gesundheitsminister versprach, die Wartezeiten bis zum Jahr 2015 auf zwölf Stunden zu reduzieren, gab es Applaus von allen Seiten. Mir kommt das vor wie ein Hohn. Den meisten meiner kanadischen Freunde nicht. Sie sind stolz auf ihr System.

Ob, wenn und wann ich je in die Röhre komme, werden Sie zeitnah unter „Blog-Updates“ erfahren.