Neues Zuhause: Fast wie Urlaub

Blick von der Dachterrasse: Leben, 3. Teil

So ist das also, wenn man 25 Jahre im eigenen Haus auf dem Land gewohnt hat und jetzt zum ersten Mal in einer Stadtwohnung aufwacht, in der du deine Zukunft verbringen wirst. So richtig stimmig fühlt es sich noch nicht an. Aber es wird großartig werden, ich spüre es.

Die Kistenstapel ragen zwar nicht ganz bis zur Decke (die ist 5 Meter hoch, wie bei Fabriklofts so üblich). Noch kein Bild an der Wand. Aber wenigstens hängen wir schon wieder am Tropf. Der Internetdealer erbarmte sich des Junkies und schickte noch am Sonntag Mahmud vorbei. Der interessierte sich vor allem für das EM-Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft und legte eher nebenbei noch eine fixe Leitung.

Wo ist das Brotmesser? Hast du meine Socken gesehen? Schatz, die Zuckerdose? Und überhaupt: Wo ist mein Landleben? Es ist dort, wo es hingehört, auf dem Land. Dort soll es von mir aus künftig bleiben. Schön war’s. Aber jetzt ist auch gut.

Zwei Flaschen Prosecco zum Einstand

Harley kam vorbei, sie wohnt zwei Türen weiter. Jung, mollig, frisch und gemütlich. Selbständig wie viele hier. Webdesign. Zwei Flaschen Prosecco und viele Lacher später dann noch das Bett von Kisten und Klamotten befreien. Und los geht’s in den ersten Schlaf im eigenen Stadtloft. Tiefschlaf. Umziehen kostet Kraft. Und nicht nur in den Muskeln.

Beim Einschlafen noch einmal die Aktion Land-Stadt-Loft Revue passieren lassen: Am Morgen des heißesten Tages des Jahres standen die Jungs vom Umzugsservice pünktlich vor der Tür. Jung und stark und freundlich, wie sie eben sind, die meisten Kanadier. 34 Grad zeigt das Thermometer, gefühlte Temperatur: 42. Mit dem Truck durch den Stau in die Dreieinhalb-Millionen-Stadt. Eineinhalb Stunden später: entladen. Was kommt in die Tiefgarage, was in den Kistenkäfig? Hilfe, das Ladekabel vom i-phone fehlt. Tut es nicht. War lediglich zwischen Winterstiefeln und Badehose versickert.

Der Altersdurchschnitt schnellt in die Höhe

Nach dem Frühstück geht’s am ersten Stadtmorgen auf die Gemeinschafts-Dachterrasse. Dort gibt’s WiFi umsonst. Bei inzwischen 36 Grad füllt sich der Pool schnell. Viele junge, manche schöne Menschen. Sorry, Boys and Girls, mit uns am Bord geht der Altersdurchschnitt bei Imperial Loft durch die Decke. Ich werde den Verdacht nicht los: Nicht alle, die sich hier erfrischen, wohnen auch hier. Schlüssel gegen Bier vielleicht? Egal. Spaß für alle darf sein. Ein bisschen fühlt es sich an wie Urlaub. Nur dass es diesmal nicht die Engländer sind, die reihenweise Liegestühle mit Handtüchern garniert haben.

Der Allwheeler vom Land wohnt jetzt in der Tiefgarage

Sonntag morgen dann: Frühstück auf der eigenen Terrasse. Die ist etwas grösser als unser Auto, das jetzt in der Tiefgarage lebt. Abgase statt Landluft. Sind meine Besitzer noch bei Trost?, könnte sich der  Allradschlepper jetzt fragen. Ja, sind sie. Sie lieben es hier und haben sich den Wechsel seit Jahren herbeigewünscht.

Kein Rasenmäherlärm mehr vom netten Nachbarn zur linken, keine Baumsäge mehr vom Häuslesbesitzer zur rechten. Die Sprinkleranlage taucht das Stadtgras in ein frisches Grün. Dem Gärtner bei der Arbeit zuschauen – wer kann das schon? Und, kaum zu glauben, von gar nicht weit weg, ganz in der Nähe der Markthallen, dringt Kirchenglockengeläut zu uns herüber. Ein Ohrenschmaus, der uns auf dem Dorf 25 Jahre vorenthalten wurde.

Und doch ist auch ein bißchen Wehmut dabei. Was machen die Eichhörnchen im Garten? Und die Waschbären – werden sie uns vermissen? Die netten Nachbarn Scott, Liane, Phil, Jennifer – denken sie manchmal an uns? Marga, 93 Jahre alt, hat uns zum Abschied ein von der Schwiegermutter gemaltes Bild geschenkt. „Soll ich adieu sagen oder Auf Wiedersehen?“, hat sie dazu poesiert. Auf Wiedersehen. Hoffentlich.

Honeymoon mit dem neuen Zuhause

Trotz nostalgischer Flashbacks kann unser Leben, 3. Teil, beginnen. Das Festnetz muss noch warten. Keine Eile. Wer soll auch was von uns wollen? Wo doch jeder weiß, dass wir gerade Honeymoon mit dem neuen Zuhause machen.

Und der Kistenberg schmilzt langsam in der Sommerhitze.