Montréal sinkt immer tiefer

© Screenshot CBC-News

Im Rathaus geben sich die Oberbürgermeister die Türklinke in die Hand, weil einer nach dem anderen mit Schimpf und Schande davon gejagt wird. Das neue Krankenhaus steckt bereits vor der Eröffnung so tief im Korruptionssumpf, dass eine ganz Armee nötig wäre, um den Dreck zu beseitigen.

Viele Straßen erinnern mehr an Bagdad als eine Weltmetropole. In einem derart desolaten Zustand befindet sich die Infrastruktur, dass jetzt, nicht zum ersten Mal übrigens, eine Straßendecke eingebrochen ist und den Weg für einen kompletten Schaufelbagger frei gemacht hat.

Dass am selben Tag, an dem der Bagger eingesackt ist, nur ein paar hundert Meter davon entfernt ein drei Tonnen schweres Metallteil einen 32jährigen Passanten erschlagen hat, passt zwar ins Bild, muss aber unter der Rubrik „tragischer Unfall“ abgehakt werden. Am falschen Ort zur falschen Zeit. Die Stahlplatte hatte sich von einem Baukran gelöst.

Ein paar Kilometer weiter östlich dann der Dauerbrenner in Sachen Schlampigkeit: Das Olympiastadion, 1976 als eine Art architektonisches Wunder gefeiert, bröckelt weiter vor sich hin. Das Teflondach weist tausende kleiner Löcher auf. Die mit rund einer Milliarde Dollar „teuerste Kopfbedeckung der Welt“ ist im Eimer.

Spätestens, nachdem sich ein Betonklotz von der Größe eines Omnibuses aus dem Fundament gelöst hat, fühlt sich kein Besucher mehr so richtig sicher, der dort zur Automobilshow geht oder zur Freizeitausstellung.

Freunden, die hier zu Besuch sind, ist der desolate Zustand Montréals oft schwer zu verklickern. „Wie kann man so eine zauberhafte Stadt so verkommen lassen?“, ist einer der Kommentare, die ich oft höre. Die Antwort darauf ist brutal, aber korrekt: Weil an den Schaltstellen der Macht Menschen sitzen, denen Profit wichtiger ist als das Wohlergehen seiner Bürger.

Kleiner Trost: Anderswo sieht es wohl auch nicht viel besser aus. Freunde aus Florida berichten, der Zustand der Straßen von Miami sei ähnlich katastrophal. Und während in Montréal gerne die klirrende Kälte als Ursache der kaputten Fahrbahnen herhalten muss, ist es in Florida eben … die Hitze.

Wie gut, das wir noch Wetter haben.

Ich liebe meine Bananen(republik)

Bei „hart aber fair“ mit Frank Plasberg ging es neulich mal wieder um Griechenland. Eine ziemlich resolute Frau, die seit einigen Jahren in Athen lebt, berichtete aus ihrem ziemlich desolaten Alltag. Der hörte sich verdammt nach Quebec an.

Die Frau erzählte, wie in Athen irgendwann der Strom ausfällt und keiner weiss, wann er wieder zurück kommt. Wie Bettler im Müll nach Nahrung suchen. Wie Schmiergeld den Reichen hilft, nicht aber den Armen. Wie Jugendliche einer beruflich unsicheren Zukunft entgegen sehen. Wie die Infrastruktur bröckelt. Quebec eben.

Schmieren. Bestechen. Schieben. Morden.

Nur gibt es in der kanadischen Provinz, in der ich lebe, keinen Euro-Rettungsschirm, unter den man sich flüchten könnte. Dafür flüchtet man sich in Ausreden: Der extrem kalte Winter, die extrem starke Auslastung der Straßen, die extrem teuren Reparaturen. Nur manchmal fällt in politischen Diskussionen das wahre Extrem, das hinter der desaströsen Infrastruktur Quebecs steckt: Korruption. Baufirmen, viele von ihnen in der Hand der italienischen Mafia, schmieren, bestechen, bescheissen, verschieben. Manchmal lassen sie auch morden.

Die Kreuzung hängt am eisernen Faden

Kurz vor meinem Abflug von Kanada nach Köln musste eine der wichtigsten Kreuzungen in Montreal gesperrt werden. Ein zweieinhalb Meter tiefes Loch in der Straße hatte sich über einem Abfluss-System aufgetan, das aus dem Jahr 1876 stammt. Einfach so. Das war vor gut zwei Wochen. Das Loch ist immer noch nicht gestopft. Inzwischen hat sich ein paar hundert Meter von Loch 1) Loch 2) gebildet. Lediglich ein Stück Schiene halte die Straßendecke noch zusammen, lese ich eben im Netz. Die Schiene war mal eine Straßenbahnschiene. Die letzte Straßenbahn fuhr in Montreal 1959. Kein gutes Gefühl, sich auf ein Stück Metall zu verlassen, das 53 Jahre alt ist.

Immerhin: Für die Sprachenpolizei ist Kohle da

Dass Brücken bröckeln, Straßen sterben und Türme torkeln hat vor allem mit Geld zu tun. Dafür gibt es in der Provinz Quebec angeblich zu wenig. Schon klar: Der Wasserkopf, der sich Behörde nennt, muss ja irgendwie finanziert werden. Wieder so eine Parallele zu Griechenland: Auch dort arbeitet ein Großteil der Bevölkerung beim Staat. Nur eins gibt es vermutlich selbst in Griechenland nicht: eine Sprachenpolizei. Die klopft in Quebec jedem Geschäftsinhaber auf die Finger, der sich erdreistet, seine Waren nur auf Englisch, aber nicht auf Französisch auszuschildern. Eben lese ich: Die Daumenschraube soll wieder angezogen werden. Bei Vergehen gegen die Sprachengesetze drohen Geldstrafen von 25 000 Dollar oder mehr.

Und trotzdem: Ich liebe dieses verrückte Quebec!

Die Frau, die im ARD-Fernsehen so mutig über ihre adoptierte und doch so geliebte Heimat Griechenland redete, war verzweifelt. Es sei manchmal schwer auszuhalten, wie dort gewirtschaftet werde. Einer der Panelisten bei „hart aber fair“, der stellvertretende BILD-Chefredakteur Blome, nannte das Kind irgendwann beim Namen: „Entwicklungsland“. Zu Deutsch: Bananenrepublik.

Das würde ich von meinem geliebten Quebec nie behaupten, geschweige denn von Kanada. Schließlich wachsen hier weit und breit keine Bananen.

„Werft Euch unter die Brücke!“

Zum Wochenende ein Schmunzler: Das Montréaler Duo „Bowser und Blue“ macht sich einen Spass daraus, die bröckelnde Infrastruktur in einem Song zu verewigen. Das Lied heißt, passend zu den Schlaglöchern, „Driving on Crack“. Und endet mit einem Tipp für alle, die sich das Chaos in Montréal nicht länger antun wollen: „Werft Euch unter die Brücke!“

Montréal geht vor die Hunde

In der Stadt, in der ich lebe, passieren seltsame Dinge. Es stürzen Brücken ein und Überführungen. Von einem Tunnel löste sich im Sommer ein meterdicker Lichtschacht und fiel auf die Stadtautobahn. Bisher ging es nur um Menschenleben. Doch jetzt wird es richtig ernst: Ein Haustier wurde Opfer der schlampigen Infrastruktur.

Die Schnauzerdame Lily kippte beim Gassi gehen tot um. Der Hund hatte im Stadtteil Outremont einen nicht ordnungsgemäß geerdeten Elektromast gestreift. Der Schock schickte die Süße im Alter von nur drei Jahren über die Regenbogenbrücke.

Wenn Straßen bröckeln oder vom Olympiastadion ein Betonblock von der Größe eines Omnibusses auf die Erde knallt, tragen dies die meisten Montréaler mit Fassung. Auch Schlaglöcher, die jederzeit einen Medizinball samt Spieler aufnehmen könnten, scheinen hier keinen sonderlich zu stören. Und Touristen aus anderen Teilen Kanadas und der USA würden sich ernsthaft um uns sorgen, wenn plötzlich alles seine Ordnung hätte. Eine gesunde Dosis schlampiger Charme wird von der Stadt meines Herzens schon fast erwartet.

Doch jetzt lassen selbst die leidensfähigen Montréaler nicht mehr mit sich spaßen. Als vor ein paar Tagen das erste Haustier Opfer der katastrophalen Infrastruktur wurde, war der Aufschrei groß. Montréal gehe jetzt vollends vor die Hunde, schimpfte ein nicht sehr witziger Leserbriefschreiber.

Foto: Gazette

In memoriam "Lily" © CBC

Im Radio hörte ich eine Anruferin so laut gegen die Stadt wettern, dass sich der Talkshow-Moderator um den Stresspegel der Frau Sorgen machte. „Madame“, versuchte der Mann sie zu beruhigen, „es handelt sich schließlich um einen Hund!“

Am Lampenpfahl festbinden!

Das Explosions-Potential dieses – zugegeben – unpässlichen Einwurfs können vermutlich nur Hundebesitzer nachvollziehen. Jedenfalls machte der Kommentar die Frau erst richtig wild. Wenn ich ihr Gekreische richtig interpretiert habe, drohte sie dem Moderator daraufhin, ihn an einem Lampenpfahl festzubinden. Oder so ähnlich.

Was mich bei der ganzen Geschichte wundert, ist, dass die meisten Leute den bedauerlichen Tod der Hundedame Lily als ein Jahrhundert-Event betrachten. Ich habe mal bei Frau Dr. Google nachgefragt, wie häufig solche Elektroschocks eigentlich passieren. Und siehe da: Es kommt öfter vor als man denkt. So oft, dass eine ganze Webseite dem Thema gewidmet ist. Auf streetzaps.com werden jede Menge Zwischenfälle mit Tieren und Elektroleitungen gelistet.

Kleiner Trost für Lily: Du bist nicht allein …