Ein Mensch mit Geschichten

Talker, Warner, Unterhalter: Bernd Dassel

Die besten Geschichten entstehen dann, wenn Menschen sich für Menschen interessieren. Und wenn sich diese Menschen dann deren Geschichten erzählen lassen. Mein Freund und Kollege Bernd Dassel beherrscht diese Kunst wie kaum ein Anderer. In den vergangenen zehn Jahren hat er genau 131 Mal „Menschen mit Geschichten“ zu seinem „Talk im Bock“ eingeladen. Jetzt ist Schluss. Aus gesundheitlichen Gründen zieht sich der Mensch Dassel auf seinen Bauernhof in Bettelhofen zurück. Talken sollen künftig andere, wenn sie wollen. Vor allem aber: Wenn sie können.

Es war kurz nach den Terroranschlägen in New York, als Bernd mich zu seinem damals noch sehr jungen „Talk im Bock“ einlud. Ich hatte für den WDR gerade zehn Tage lang aus der verwundeten Stadt berichtet, die von Al Kaida-Fanatikern angegriffen worden war. Viele Menschen waren in den mittelalterlichen „Bockturm“ gekommen, um einem Augenzeugen zuzuhören, wie er 9/11 erlebt hatte.

Moderator Dassel. Gast Bopp.

Dabei war meine eigene Aufgabe durchaus überschaubar: Ich musste lediglich erzählen, was ich in New York gesehen, gehört, empfunden hatte. Dass dieses Gesehene, Gehörte, Empfundene die Menschen im Bocksaal so tief berührte, dass Tränen flossen, ist nicht zuletzt dem Mann zu verdanken, der mich interviewte. Bernd Dassel hat es verstanden, durch kluge und einfühlsame Fragestellung Antworten aus mir herauszudestillieren, die ohne sein Moderationsvermögen nicht gekommen wären.

Aber die ganz großen Fragen, die ganz großen Themen, die ganz großen Namen, die kamen allesamt nach mir: Ein Astronaut (Reiter) und ein späterer Bundespräsident (Gauck), ein Bundesliga-Fußballer (Lahm) und zwei Championsleague-Talker (Plasberg, Kleber). Dazwischen immer wieder ein beeindruckendes Aufgebot an Denkern, Stars, Weltverstehern, Gut- und -Machtmenschen. Am liebsten, sagte mir Bernd oft, sei ihm eine Sorte Mensch gewesen: Menschen mit Geschichten.

Auf Augenhöhe mit dem Sohn des Kanzlerspions Guillaume

Heinz Schön, etwa, der die Tragödie der „Wilhelm Gustloff“ überlebt hat. Pierre Boom, der mit der Bürde leben muss, der Sohn des Kanzlerspions Guillaume zu sein. Die Freifrau zu Guttenberg, die nicht als Gattin eines gefallenen Ministers nach Leutkirch gekommen war, sondern als eine Frau, die sich der Hilfe von Kindern verschrieben hat.

Gregor Gysi kam genauso in den Bocksaal wie der „Euro-Vater“ Theo Waigel oder der Mann, nach dem eine Rente benannt ist: Walter Riester. Die Letzte, die Bernd Dassel in der vergangenen Woche interviewt hat, war eine veritable Fee, wenngleich eine Wetterfee: Claudia Kleinert. Und natürlich entlockte Bernd Dassel auch ihr wieder Geschichten und zauberte damit den Menschen im Saal ein Lächeln ins Gesicht.

Kaum zu glauben, dass diese Stars, diese Reichen, Berühmten und Mächtigen, ohne Aussicht auf mediale Verbreitung ins beschauliche Leutkirch gekommen waren. Der „Talk im Bock“ wurde weder im Fernsehen übertragen, noch im Radio gesendet. Ein paar Dutzend Zuhörer im Publikum, das war’s. Gelegentlich, wenn der Andrang zu groß war, wie etwa bei der erst gefeierten, dann gefallenen „schönen Landrätin“ Gabriele Pauli, musste die Veranstaltung in die Stadthalle verlegt werden. Dann kamen viele Hundert und hingen Dassel und seinen Gästen an den Lippen.

Hunderttausende an Spenden für die Welt, aber Null Honorar für den Moderator

Bockturm in Leutkirch

Wer Gast im „Talk im Bock“ war, durfte die Spendentrommel rühren und den Zweck dafür selbst bestimmen. Rund 411 000 Euro sind so im Laufe der Jahre zusammen gekommen. Dabei gestattete sich der Mann, der dies alles möglich gemacht hat, leer auszugehen. Die 131 Talks bestritt der hochkarätige Radio- und Fernsehmann Bernd Dassel ohne einen Cent Honorar. Das Geld für Hotelübernachtungen und Reisekosten seiner Gäste übernahmen loyale Sponsoren aus Leutkirch und Umgebung. Eine Handvoll Männer und Frauen, die ähnlich ticken wie mein Kumpel – allen voran seine Frau Astrid Bernecker -, halfen Bernd bei der Organisation. In den Talk-Pausen spielte die fabelhafte Band „Just Friends“. Der Eintritt zu den Veranstaltungen war stets kostenlos. Unterhaltung auf hohem Niveau zum Nulltarif. So wollte es Bernd, so sollte es sein.

Ob der „Talk im Bock“ fortgeführt wird – und wenn ja, in welcher Besetzung – darüber werden sich jetzt einige Menschen ihre Köpfe zerbrechen müssen. Ich würde es Bernd wünschen, dass seine Philosophie vom „Gespräch auf Augenhöhe“ Bestand haben wird.

Dass solche Gespräche nur möglich sind, wenn sie von Menschen geführt werden, die sich für Menschen interessieren, sollte jedem klar sein, der sich traut, Bernd Dassels Nachfolge anzutreten.

„Ich bin froh und dankbar“

Ein befreundeter Kollege von mir sitzt seit kurzem im Rollstuhl. Gelähmt nach einem Fahrradunfall. Guter Typ. Sportler. Familiy Man. Und jetzt das. Aber anstatt zu klagen, freut er sich über Dinge, die ihm geblieben sind.

„Ich bin froh und dankbar“, schreibt Bruno in seiner Weihnachtsmail, „dass ich bisher noch jeden Tag im Elektrorollstuhl mit Kinnsteuerung an mein Notebook fahren und mittels Mundmaus, einer Art Blasrohr, mein Fenster zur Welt öffnen kann“. Und dann schreibt er noch, ganz Journalist: „Ich kommuniziere, also bin ich.“ Ein Mutmacher.

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Börnie, ein Freund, einer meiner besten, sitzt zwar nicht im Rollstuhl. Aber er ist körperlich arg lädiert. Jeder Schritt schmerzt. Mehrere Herzinfarkte. Bypässe. Künstliche Gelenke. Atemnot. „Wandelndes Ersatzteillager“, dürfen wir ihn ungestraft nennen. „Unkaputtbar“, sagt er über sich selbst. Anstatt zu klagen, macht er anderen Menschen Freude. Vor allem den Bewohnern seiner Fast-Heimat Leutkirch im Allgäu. Mehr als 100 mal hat er dort schon den „Talk im Bock“ moderiert, eine von ihm ins Leben gerufene Talk-Veranstaltung im Bockturm.

Börnie war eine große Nummer bei SWR3 und im deutschen Privatfernsehen. Noch heute zieht er die Prominenz an wie das Licht die Motten: Gauck, Waigel, Nowottny, Philipp Lahm und Frank Elstner. Claudia Roth und Henry Maske. Und auch Freifrau Stephanie zu Guttenberg war schon bei ihm. Ohne Fernsehen, ohne Radio. Einfach so. Mein Kumpel macht das ohne Bezahlung, buttert sogar hin und wieder aus der eigenen Tasche etwas dazu. Mutmacher.

Mutmacherin Elke

Elke, das Wunder auf zwei Beinen: Krebskrank, fast blind. Läuft 60 Kilometer, um Geld für die Krebshilfe zu sammeln. 75 000 Dollar hat sie auf diese Art schon zusammengetrommelt. Jammert nicht. Bekocht Freunde in Montréal mit Sauerbraten und Knödel. Freut sich wie ein Kind über jedes Hilfsmittel, das ihr, trotz schwerster Sehstörung, noch den Zugang ins Internet ermöglicht. Mutmacherin.

Mein Nachbar Scott. Einst Topjob-Mann mit Spesenkonto und mehr Flugmeilen auf dem Konto als ein einziger Mensch in einem Leben verfliegen kann. Verliert den Job im falschen Alter. Fällt kurz in ein Loch, berappelt sich und arbeitet jetzt als Swimmingpool-Reiniger. Bleibt dadurch fit. Jammert nicht, hält trotz des wirtschaftlichen Einbruchs Haus, Hof und Familie zusammen. Mutmacher.

Marga, 91. Wohnt in ihrem Hexenhäuschen 150 Meter von uns. Ganz allein. Putzt, kocht. Fährt jeden Tag mit dem Auto ins Dorf. Lächelt am Steuer, kommt daher wie aus dem Ei gepellt. Winkt nach links und nach rechts und freut sich über den Tag, den ihr der Große Fahrlehrer wieder geschenkt hat. Backt Kuchen für die Nachbarschaft und füttert ihren Privatzoo. Eichhörnchen, Waschbären, Erdhörnchen, Vögel. Schreibt Briefe, in denen kein Komma fehlt. Diskutiert über Eurohilfe und Sozialismus. Mutmacherin.

Unsere Nachbarin Lise am See. Blutgerinnsel im Kopf. Lebt mit einer Zeitbombe. Wartet seit Monaten auf einen OP-Termin beim Gehirnchirurgen. Klagt nicht. Schreibt: „Ich verbringe die Zeit mit Kochen und genieße das Leben in der Natur“. Mutmacherin.

Vorsätze fürs neue Jahr? Weniger jammern. Fangen wir an: Einen Teufel werde ich tun, über meine schmerzende Schulter zu klagen und über mein lädiertes Knie. Über den Nachbarn, der am Weihnachtsmorgen vor seinem Haus Plastikreste verbrennt. Die Schlaglöcher vor unserem Haus, die uns demnächst verschlucken werden. Den Krachmacher zur linken, der uns mit seinem Rasenmäher, der Motorsäge, der Fräse und dem Dieselaggregat die Ohren volldröhnt. Und ich werde mich auch nicht mehr über die minus 20 Grad beklagen, die uns der kanadische Winter heute wieder eingebrockt hat.

Ich will auch Mutmacher werden!