Manchmal sehne ich mich nach einem Stück Papier. Nach dem Rascheln der Zeitung, dem Geräusch, das beim Umblättern des Fernsehprogramms entsteht, nach dem Kritzeln beim Ausfüllen des Terminkalenders. Ich sehne mich nach der guten, alten vordigitalen Steinzeit.
Tageszeitung? Gekündigt. Wochenplaner? Online. TV-Guide? Fernsehbildschirm. Selbst den SPIEGEL gibt’s nur in der Elektronik-Version. Die Frau an meiner Seite, eine nimmersatte Leseratte, pumpte jahrelang Geld in die Kassen von „Chapters“, „Indigo“ oder sonst einem Buchladen. Heute bringt sie den E-Book–Reader zum Glühen.
Als Besucher aus Deutschland noch Glücksbringer waren
Früher, nein, da war nicht alles besser. Aber es war irgendwie anders. Da durften Besucher aus Deutschland noch Glücksbringer spielen. Eine zerknitterte Ausgabe der Frankfurter Rundschau war tausend mal wertvoller als die Trüffel aus dem Duty-free-Shop. Wer wirklich Eindruck schinden wollte, brachte dem Gastgeber in Kanada ein stern-Exemplar mit. Oder, sei er noch so zerfleddert, den SPIEGEL.
Bordlektüre hat schon manchen reich gemacht. Der Verleger der deutschsprachigen Wochenzeitung, für die ich zu Beginn meiner Kanada-Zeit in Winnipeg schrieb, hat seine erste Kohle mit „Bordkill“ gemacht. So nannten Insider damals Zeitungen und Zeitschriften, die Passagiere nach dem Flug auf ihren Sitzen liegen ließen. Gut instruierte, aber schlecht bezahlte Putzkolonnen retteten den Papierschrott vor dem Schredder und lieferten ihn beim deutschkanadischen Verleger ab. Der wiederum verscherbelte den Bordkill an ethnische Zeitungsläden, von denen es in den 70er und 80er Jahren noch jede Menge gab.
Leberwurstflecken auf dem Kreuzworträtsel
Einer davon hatte sich auch in Montreal einen Namen gemacht. Eine jüdische Großfamilie verklopfte so ziemlich alles, was irgendwann von der Rotationspresse gefallen war: Von der Jerusalem Post bis zur Stuttgarter Zeitung, vom San Francisco Chronicle bis zur größten Tageszeitung von Budapest, deren Namen ich mir weder merken, noch ihn aussprechen kann. Manche der Blätter sahen aus, als seien sie kurz mal durch den Fleischwolf gedreht worden, ehe sie im Zeitungsladen landeten. Kaffeeflecken auf Seite eins? So what! Hauptsache der Leitartikel ist noch lesbar. Leberwurstspuren auf dem Fernsehprogramm? Wen juckt’s, so lange der Kugelschreiber nicht auf dem Kreuzworträtsel ausrutscht.
Neulich wollte ich in einem Anflug von Nostalgie die jüdischen Brüder besuchen, bei denen ich jahrelang für Wahnsinnspreise Bordkill-Versionen von SPIEGEL, stern und FAZ gekauft hatte. Den Laden gibt es nicht mehr, er ist „à louer“. Hin und wieder führt mich mein Weg in einen Feinkostladen in den Stadtteil Côte-des-Neiges. Dort gibt es die Presseprodukte aus deutschen Landen noch immer. Viel zu teuer, viel zu spät. Aber immerhin.
Der papierene Charme beim Umblättern des „Bordkill“
Und weil ich nicht gewillt bin, für einen zwei Wochen alten FOCUS eine Hypothek auf mein Haus aufzunehmen, verharre ich manchmal im Vorbeigehen etwas verschämt im deutschsprachigen Blätterwald. Und weil es das ja auch nicht sein kann, bezahle ich immer öfter immer unwilliger für den digitalen Download von stern, Geo oder Mare. Aber es fehlt etwas beim Lesen. Das erwartungsvolle Rascheln beim Umblättern des Bordkill, der papierene Charme eben.
E I L M E L D U N G !!! Eben habe ich den SPIEGEL abonniert. Druckausgabe. Luftpost. Jeden Montag frisch. Für einen Wahnsinnspreis. Blätterrauschen inklusive.