Der alte Mann und die Liebe

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Alte Menschen sind großartig. Vor allem, wenn sie das Alter klug gemacht hat und nicht bitter.

Neulich in einer Montrealer Bar, neben mir sitzt ein alter Mann. Er sei gerade 90 geworden, sagt er. Man stellt sich vor.

Do you love yourself, Herbert?“, fragt er mich.

Als meine Antwort nach gefühlten zwei Millisekunden immer  noch nicht kommt, hakt der alte Herr nach: „Do you REALLY love yourself, Herbert?

Ich glaube schon“, sage ich und ernte für diesen Wortschwamm prompt die verdiente rhetorische Tracht Prügel: „Glauben heißt nicht wissen“.

Diese These soll hier keineswegs infrage gestellt werden. Interessanter scheint mir, dass sich ein Neunzigjähriger überhaupt auf ein philosophisches Minenfeld wie das der Liebe, des Glaubens und der Weisheit begibt.

Und überhaupt: Gehört ein 90jähriger Mann abends nicht ins Bett statt an die Bar?

Hinter dem greisen Herrn sitzt, halb verdeckt von seinem weißen, weisen Kopf eine junge Frau mit Rehaugen und MacBook. Mein Gesprächspartner hat sie längst entdeckt. Wer in Paris geboren wird, in Tel Aviv, Wien, Rom und Budapest aufwächst und dann über New York nach Montreal kommt, hat das Vieraugenprinzip verstanden.

Ich muss mich für ein paar Minuten entschuldigen. Nach meiner Rückkehr strahlen mich die Augen des alten Mannes geradezu an. „Ich möchte dir Mireille vorstellen“, sagt er. „Sie kommt aus Grenoble. Ist sie nicht herrlich?“.

Aha. Mireille heißt sie also, die junge Frau mit den Rehaugen und dem MacBook.

Mireille lächelt, als sie mir vorgestellt wird. Mein neuer Freund lächelt immer noch. Und auch mir hat die Begegnung mit zwei so unterschiedlich schönen Menschen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

Spät in der Nacht verabschiedet sich mein neuer Freund von Mireille und mir. Er müsse morgen früh raus. Die Uni gehe wieder los. „Die Uni?“ „Ja„, sagt der alte Mann, er sei seit 15 Jahren an der Universität eingeschrieben. Morgen treffe er sich mit einer Komilitonin zum Gedankenaustausch. Sie ist 23.

„Wie machst Du das?“, frage ich meinen neuen, alten Freund.

Es sei ganz einfach: „First you have to love yourself“, sagt der alte Schwerenöter, „then they will love you„.

Erst viel später, auf dem Heimweg, wird mir klar: Ich bin einem liebenswerten Menschenfänger begegnet. Einem, der das Alter als Luxus versteht und nicht als Last.

Ich möchte, bitteschön, auch neunzig werden. Und zwar genau so.

Die Altersweisheiten des Herrn J.

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Entspannt dem Alter entgegen sehen: Auf das Timing kommt es an. © Bopp

Manchmal fragt man sich ja, ob man die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Ob es zum Beispiel eine gute Idee war, das Haus auf dem Land zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen. Oder ob unser fliegender Wechsel zwischen Montréal und Mallorca sinnvoll ist. Ein freundlicher Herr aus Bayern, der neulich im Flugzeug von Palma nach München neben mir saß, machte mir Hoffnung: Anscheinend haben wir mit unserem Alterskonzept ziemlich vieles ziemlich richtig gemacht.

Herr J. ist Anfang 50 und hauptberuflicher Experte auf dem Gebiet: „Alt und glücklich werden“. Der Mann hat eine interessante Vita. Als gelernter Altenpfleger betreute er über 20 Jahre lang Deutsche und Schweizer, die sich in der Toskana und auf Menorca niedergelassen hatten. Es war eine überschaubare Herausforderung, sagte mir Herr J. Die alten Herrschaften, offensichtlich nicht ganz arm, wollten von ihm vor allem unterhalten werden.

Herr J. ist sehr belesen, das merkt man ihm sofort an. Und da viele ältere Menschen selbst nicht mehr lesen, weil ihr Augenlicht versagt oder sie das Lesen zu sehr anstrengt, fungierte meine Flugbekanntschaft eben als Vorleser.

Wie eine Frau sein Leben veränderte

Irgendwann hatte er genug vorgelesen und beschloss, sich von nun an vorlesen zu lassen. Er schrieb sich in einer Universität ein, um Philosophie und Sozialpädagogik zu studieren. Während eines Praktikums lernte er schließlich eine Frau kennen, die sein Leben verändern sollte.

Diese Frau war der Meinung, dass junge Leute schon frühzeitig in die Entwicklung älterer Menschen miteinbezogen werden sollten. Nicht nur werden junge Menschen irgendwann mal selbst alt. Mit der rechtzeitigen Beschäftigung mit dem Alter, so die Idee, wächst bei ihnen auch ein besseres Verständnis für ihre eigenen Eltern heran.

Seminare über Alters-Philosophie

Die kluge Frau und Herr J. gründeten eine „Aging-Agentur“. Zunächst boten sie ihre Beratungsdienste Volkshochschulen und anderen pädagogischen Einrichtungen an. Irgendwann kamen kleinere Firmen dazu. Heute betreiben die Beiden ein erfolgreiches Unternehmen, das Konzerne wie McDonald’s, H&M, Siemens und andere Big Players berät. Ihre Seminare geben sie inzwischen nicht nur vor jungen Menschen, deren Berührungsängste mit dem Alter sie abzubauen versuchen. Jetzt sind es auch Firmenmitarbeiter, die vor der Pensionierung stehen und manchmal Angst vor dem richtigen Alterskonzept haben.

Rechtzeiting downsizen – sonst ist es vielleicht zu spät

Viele ältere Menschen, erzählte mir Herr J., kämen zu spät zu der Erkenntnis, sie müssten noch etwas an ihrem Leben ändern. Sich zum Beispiel verkleinern, wie wir das machten. Haus auf dem Land gegen Stadtwohnung. Gerade wenn es um das Downsizing gehe, hätten ältere Menschen oft mit einer Stigmatisierung zu kämpfen, etwa nach dem Motto: „Hoffentlich denken die Leute jetzt nicht, ich sei am Verarmen und musste deshalb mein Haus verkaufen“. Wir kennen das.

Die lähmende Angst vor Entscheidungen

Besonders im Alter sei das Timing wichtig. Werden Entscheidungen zu lange aufgeschoben, könnte es irgendwann zu spät sein. Als älterer Mensch nehmen die Entscheidungsfreudigkeit ab und die Angst vor dem Risiko zu. Weil sie keine Fehler machen wollen, machen sie lieber gar nichts. Und verharren in der Lethargie.

Wichtig sei es für ältere Menschen, sagt Herr J., dass sie sich vor lauter Zukunftsängsten nicht die Freude am Jetzt nehmen lassen. Besonders groß sei dabei die Angst vor Altersarmut. Diese Angst – nicht die Armut – sei in Deutschland übrigens weiter verbreitet als in Ländern, wo der Staat weniger für seine Alten tut. „Deutschland ist eine Versicherungsgesellschaft“, sagt Herr J. „Wir würden am liebsten alles und jedes versichern lassen. Wenn es ginge, auch unser Lebensglück“.

Herr J. verriet mir noch andere Erkenntnisse aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz. So sei es für das Alter ganz wichtig, dass man sich an Werte erinnere, die einem schon immer wichtig waren, die aber im Laufe eines gelebten Lebens wieder in Vergessenheit geraten sind.

Einmal tolerant, immer tolerant

Toleranz gehört dazu. Wer als junger Typ Menschen mit Migrationshintergrund „cool“ fand, weil sie eine andere Sprache sprachen, eine andere Kultur mitbrachten, anders aßen als wir, sollte sich im Alter wieder daran erinnern, wie wichtig ihm diese Wahrnehmung einmal war. Oft ist jedoch das Gegenteil der Fall: Ältere Menschen haben plötzlich Vorbehalte gegen „alles andere“, also auch gegen Menschen aus fremden Kultur- und Sprachkreisen.

Alten-Wohngemeinschaften hält Herr J. zwar generell für eine sinnvolle Einrichtung. Aber sie bergen auch Tücken. Bestenfalls können sie vor Einsamkeit schützen, im schlechtesten Fall jedoch Emotionen freisetzen, die wir schon gar nicht mehr an uns kannten. Zickigkeit, Bösartigkeit, Neid.

Ich wollte Herrn J. noch fragen, wie denn sein eigenes Alterskonzept so aussieht. Aber an dieser Stelle endete unsere Unterhaltung und die Maschine setzte in München zur Landung an.

Schade. Viel zu wenig Flugzeit für so viele Erkenntnisse.