Die Ekelshow von Oslo

Es gibt Zeiten, da bin ich nicht besonders gut auf manche meiner Kollegen zu sprechen. Sie mögen es mir verzeihen, wenn ich sie heute mal ins Visier nehme. Es geht um den Hype, der um Ereignisse gemacht wird und darum, Menschen eine Plattform zu bieten, die sie nicht verdient haben. Es geht um den Massenmörder von Norwegen.

Schon bei dem Begriff „Massenmörder“ fängt es an. Genau genommen darf ich dieses Monster von Mensch gar nicht als „Mörder“ bezeichnen, gleich gar nicht als „Massenmörder“. Breivik ist noch nicht strafrechtlich verurteilt. Somit wäre er genau genommen ein „mutmaßlicher Massenmörder“. Aber das hier ist ein Blog und kein tagesaktuelles Nachrichtenportal, auf dem Information und Meinung getrennt werden müssen. Deshalb nehme ich mir die Freiheit, Begriffe nicht auf die Goldwaage zu legen. Jemand, der junge Menschen wie Hasen jagt, schließlich 77 von ihnen erschießt und jetzt vor Gericht bedauert, dass es nicht mehr Opfer gegeben hat, verdient in meinen Augen keine politisch korrekte Bezeichnung. Er ist ein Massenmörder.

Die Tat selbst ist verabscheuungswürdig genug. Aber damit hört die Ekelshow nicht auf. Jetzt darf sich Breivik vor einem Weltpublikum ungestraft mit Hitlergruß und Durchhalteparolen inszenieren. Er darf es nicht nur, er kann es auch. Weil viele meiner Kollegen sein perfides Spiel mitmachen.

Hunderte von ihnen sind nach Oslo gereist, um einem Mann an den Lippen zu hängen, der Dutzende von Menschenleben ausgelöscht hat und sich auch noch damit brüstet. Er darf rassistische Parolen von sich geben und Werte wie Multikulturalismus und menschliche Harmonie auf infame Art ins Lächerliche ziehen. Und Hunderte von Journalisten schreiben mit, zeichnen auf, senden.

Es wäre nicht nur dumm, sondern unverständlich und in höchstem Masse unprofessionell, würde ich nicht hinter der freien Meinungsäußerung von Menschen stehen, in diesem Fall auch von Journalisten. Aber ich finde, bei Horrorveranstaltungen wie dieser, müssten Kompromisse erlaubt sein.

Anstatt die nächsten zehn Wochen lang Tag für Tag jedes gedachte Komma dieses menschenvernichtenden Verbrechers nachzubeten, müsste es doch genügen, in abgespeckter Version der journalistischen Chronistenpflicht nachzukommen. Zum Beispiel so:

  • Ein Bericht über den Prozessauftakt
  • Ein Bericht über die Aussagen der Gutachter
  • Ein Bericht über das Plädoyer des Staatsanwalts
  • Ein Bericht über das Plädoyer der Verteidigung
  • Ein Bericht über das Urteil samt Urteilsbegründung
  • Ein Bericht über Reaktionen aus dem Volk

DIE ZEIT, das Leitmedium in Fragen journalistischer Ethik, vertritt in ihrer heutigen Online-Ausgabe die These: „Nur die Beschäftigung mit dem Furchtbaren führt zu Erkenntnis. Die Augen zu verschließen, macht blind.“ Stimmt. Aber deshalb müssen wir uns noch lange nicht von einem Monster namens Breivik durch journalistische Dauerberieselung zum Sprachrohr des Bösen instrumentalisieren lassen.

Medienschaffende werden nun auf die freie Wahl bei der Konsumierung von Presseberichten, Nachrichtenfilmen und Hörfunkreportagen verweisen. Stimmt. Keiner zwingt uns, jedes Wort zu lesen, das Breivik in den nächsten zehn Wochen von sich gibt. Aber wir alle wissen, es wird kaum ein Weg daran vorbeiführen. Das Bombardement der Prozessberichterstattung wird zur Pflichtlektüre werden, weil Breivik es verstehen wird, die Nachrichtensender Geisel zu nehmen. Nur: Dazu gehören zwei. Nachrichtensendungen sind keine Einbahnstraße. Einer sendet, einer empfängt.

Ich werde zwar nicht die Augen verschließen. Aber versuchen, die nächsten Wochen und Monate meinen Breivik-Empfänger auf stumm zu schalten.

Abenteuer Online-Journalismus

Günther Jauch gehört nicht zu meinen Lieblings-Moderatoren. Trotzdem sehe ich mir seine Talkshow an. Als Livestream im Internet. So weiß ich, dass es am Sonntag im Gasometer um Schulkinder ging, die in Deutschland immer fetter werden. Herr Lauterbach, der Dauergast mit Fliege, ist mir inzwischen so vertraut, dass ich ihn gerne zum Kaffee einladen würde.

Wir könnten uns dann über all die anderen Talksendungen unterhalten, in denen er schon aufgetreten ist. Vielleicht würde er sich wundern, wie gut ich Bescheid weiß über sein Fernsehleben. Manchmal wundere ich mich selbst, warum ich mir all die deutschen Talkshows ansehe, wo wir doch seit 30 Jahren in Kanada leben. Ja, warum eigentlich? Ganz einfach: Weil ich’s kann. Das Internet macht’s möglich.

Damals: Zeitungsstapel vor dem Kiosk.

Wäre das schon vor 30 Jahren der Fall gewesen, hätte ich mir viel Mühe ersparen können. Vermutlich wäre mein Leben aber auch weniger bunt und abenteuerlich verlaufen.

Sperrig, mühsam und teuer

Die Suche nach täglich frischen Themen, die damit verbundene Recherche und schließlich die Übermittlung der fertigen Beiträge – das alles war damals sehr mühsam, teuer und aufwendig. Fernschreiber statt Fax und Email. Sperriges Aufnahmegerät statt digitales Flash-Mikrofon. Kamera statt Mausklicks.

Achtung, Opa erzählt aus dem Krieg: Als ich 1983 anfing, ARD-Sender mit Kanada-Themen zu beliefern, begann mein Tag oft schon um vier Uhr morgens. Mein Weg führte mich dann vor den Kiosk um die Ecke, wo die noch verschnürten Zeitungen jungfräulich darauf warteten, gelesen zu werden. Ich tat ihnen den Gefallen. Denn wo sonst sollte ich meine Themen herbekommen, die ich hinterher den Sendern anbieten würde?

Die Kanada-Exotik ist mit dem Internet abgeblättert

Internet gab es nicht und Kanada war damals noch weit weg in den Köpfen der meisten Deutschen. Wenn ich durch die Republik reiste, um in den Redaktions-Konferenzen Geschichten zu erzählen, die nach Abenteuer und Freiheit klangen, sah ich bei manchen Kollegen ein Leuchten in den Augen, das mir signalisierte: „Ich will auch!“ Heute eher: „Nicht schon wieder!“ Globalisierung auf Kosten der Exotik. Schuld daran ist das Internet. Was gestern noch wild, weit und fremd erschien, kann sich heute fast jeder mit einem Mausklick ins Haus holen.

fotohubpagesEs war ein tolles Leben, das ich als junger, freischaffender Kanada-Korrespondent für die ARD führte: Montréaler Altbauwohnung im angesagten Stadtteil Notre-Dame-de-Grâce. Meist freie Hand bei der Themenauswahl. Mein Chef war der Anrufbeantworter. Ob der Korrespondent den Tag lieber im Büro, auf Reisen oder gar am Strand verbringen sollte – darüber entschied nicht selten der Blick auf den Kontoauszug. Nur wenige freie Journalisten im Ausland hatten damals das Glück, nicht nur überleben, sondern gut leben zu können. Die anderen Glücklichen, die ich kannte, waren ein Kollege in New York, einer in Los Angeles und später noch einer in Washington.

Mit der deutschen Nabelschau nahm die Kanada-Exotik ab

Doch irgendwann änderten sich die Zeiten. Die Budgets der Sender wurden kleiner, die Sendeplätze weniger. Themen, die noch vor kurzem den Telefonhörer zum Glühen gebracht hätten, blieben immer häufiger als Vorschläge in der Schublade. Plötzlich war Deutschland mehr mit sich selbst beschäftigt: Mauerfall, Spendenskandal, Ost-West-Zusammenführung. Und Internet. Keiner der freien Korrespondenten blieb von den Folgen der deutschen Nabelschau verschont. Die Auftragslage forderte uns zum Umdenken auf. Zeit für Plan B. Der hieß bei mir: Onlinejournalismus.

Heute: Mausklick zur Recherche.

Weitsichtige und kluge Kollegen haben mir den Weg ins Internet als Geschäftsmodell geebnet. Jetzt waren Medienanalysen für Sender gefragt, Programm-Beobachtungen und multimediale Innovationen. Standen die Konzepte dann, wurden sie in Seminaren umgesetzt, die mich zu zahlreichen Hörfunk- und Fernsehsendern und Medienakademien führten. Viele KollegInnen, die es im Radio und Fernsehen bereits zu etwas gebracht hatten, mussten plötzlich umdenken. Tagesaktueller Journalismus im Internet ist eine neue Baustelle, die gelernt sein muss.

Ich hatte das Glück, von Anfang an dabei zu sein. Onlinejournalismus mag nicht ganz so aufregend sein wie Reporterreisen zu Cree-Indianern und nach Alaska. Aber es ist anders. Anders schön. Und auch anders aufregend. Für den Kick sorgt jetzt der Klick.

Danke, Stefan. Danke Frank. Danke Dorothee.

Journalisten greifen wilde Tiere an

Seitdem ich in Kanada lebe, spielen Tiere für mich eine große Rolle. Haustiere sowieso. Wilde Tiere erst recht. Hohe Tiere weniger. Was mich aber – pardon – tierisch nervt, ist der Umgang der hiesigen Medien mit Tieren, die in freier Wildbahn leben und das tun, was ihr gutes Recht ist: ihr Territorium verteidigen. Dann machen Journalisten regelrecht Hatz auf wilde Tiere. So auch jetzt wieder, nach einer Cougar-Attacke auf Vancouver Island.

Abgespielt hat sich Medienberichten zufolge der Zwischenfall so: Die Raubkatze hatte ein 18 Monate altes Kind bei einem Waldspaziergang mit seinen Eltern angefallen. Das Drama ereignete sich im Kennedy Lake Provincial Park, in der Nähe von Ucluelet. Einigen unseren Blog-Lesern dürfte die Gegend bekannt sein: Stefan aus Grevenbroich und Frank aus Köln hatten uns neulich mit herrlichen Naturfotos aus dieser Ecke beglückt.

Wer schützt uns vor wilden Tieren? Und die Tiere vor Menschen?

Der Bub wurde also vom Cougar gebissen. Dem Vater und Großvater des Jungen gelang es, die Wildkatze zu verscheuchen und Schlimmeres zu verhindern. Bleibende körperliche Schäden wird das Kind voraussichtlich nicht davontragen. Soweit die Fakten. Was folgt, ist ein Medienspektakel – so wie wir es in den vergangenen 30 Kanada-Jahren kennen und hassen gelernt haben: „Kind ums Haar von Cougar totgebissen“ –  „Warum schützt uns der Staat nicht besser vor wilden Tieren?“  –  „Wie konnte das passieren? Die Eltern haben alles richtig gemacht!“ Haut rein, ihr Journalisten! Nicht nur Sex sells. Auch Sensationen. Auch dann, wenn es im Grunde genommen gar keine sind.

Traurig, die Sache mit dem Jungen. Traurig wird aber auch der Fallout dieses Zwischenfalls sein. Es wird Hatz auf wilde Tiere gemacht. Vor allem in den Medien. Und weil der Staat die Zeitung liest, sind Parkranger von British Columbia angehalten, Jagd auf Cougars zu machen. Willfährige Journalisten helfen da gerne mit. Und jetzt? Parks, oder zumindest Teile davon, sind seit der Cougar-Attacke für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Und das zur schönsten Jahreszeit des Jahres. Gratuliere, Kolleginnen und Kollegen!

Dass Cougars Menschen anfallen, kommt vor. So wie Hunde Menschen anfallen oder Pferde nach Kindern treten, die doof rumstehen. Dass Cougars aber Menschen tödlich verletzen, passiert so gut wie nie. In den vergangenen 100 Jahren ist es in Kanada gerade mal fünf Mal passiert. Schrecklich für die Beteiligten. Aber statistisch gesehen nicht von hohem Nachrichtenwert. Fünf tödliche Cougar-Attacken in 100 Jahren, in einem Land, das 40 mal so groß ist wie Deutschland. Wie oft fallen Kampfunde nochmal Kinder an?

Tatort Cougar-Attacke

Ich will hier nichts beschönigen: Cougars sind gefürchtete Wildkatzen. Sie können, einschließlich Schwanz, bis zu zwei Meter lang und 75 Kilo schwer werden. Wenn sie angreifen, tun sie das meistens aus dem Hinterhalt. Dann stürzen sie sich fast immer zuerst auf den Kopf ihres Opfers.

Dass Cougar-Attacken in letzter Zeit zugenommen haben, hat vermutlich mit dem Gewohnheitsfaktor zu tun. In diesem Jahr ist die Anzahl der Touristen auf Vancouver Island besonders groß. Bei solchen Menschenmassen verlieren wilde Tiere eher die Scheu und gewöhnen sich an Menschen.

Es wird Zeit, dass wir Menschen uns langsam auch an Cougars gewöhnen. Und Wölfe. und Grizzlybären. Und Schlangen. Bei Kampfhunden bin ich mir da nicht so sicher. Vor allem bei deren Besitzern.

>>>  Mutter des Jungen berichtet von der Attacke  (CBC-Video) <<<