Keine Angst vor „Sandy“, aber …

Heute, 10:30 Uhr: Blick auf die Innenstadt von Montreal.

„Sandy“ ist hier, aber nur ein bisschen. In New York sind Menschen gestorben, wurden U-Bahn-Schächte überflutet. Der Sachschaden geht in die Milliarden. Hier in Montreal scheint der Kelch an uns vorbeigegangen zu sein. Stürmische Winde, gießkannenartige Regenfälle, 50-tausend ohne Strom. Das war’s dann schon. Zumindest auf der Wetterebene. Unser „Sandy“ spielt sich zurzeit wieder einmal in der Politik ab.

Es brodelt an allen Ecken und Enden. Seitdem die „Parti Quebecois“ vor einigen Monaten die Landtagswahlen in Quebec gewonnen hat, macht sich eine giftige Stimmung breit, der man sich schwer entziehen kann. Englischsprachige Kanadier trauen Frankokanadiern nicht mehr über den Weg – und umgekehrt.

Auch wenn die Not am größten ist: „Ici on parle français

Die kleingeistigen Separatisten unter ihrer Ministerpräsidentin Pauline Marois würden in ihrer Engstirnigkeit am liebsten alles verbieten, was auch nur im Ansatz nach Englisch riecht: Englische Schulen und Kindergärten, englischsprachige Beamte, Schilder, die nicht auf Französisch sind, ohnehin.

Warum? Man hat Angst, die französische Sprachinsel könnte im Meer der englischsprachigen Sünde verschwinden.

Oft sind es ja Menschen, deren IQ-Zahl gerade mal der Zimmertemperatur entspricht, die für die größte Unruhe sorgen. So hatte sich vor ein paar Tagen ein Rettungssanitäter geweigert, den Eltern eines Mädchens, das einen Epilepsieanfall erlitten hatte, Auskunft in Englisch zu geben. Nicht, weil der Erste-Hilfe-Mann der englischen Sprache nicht mächtig gewesen wäre – nein, er spricht sie fließend, wie sich später herausstellte. Er wollte lediglich ein politisches Signal setzen: „Ici on parle français„. Wirklich? Auch wenn ein Kind mit dem Tod kämpft? Geht’s noch?

Im Schwitzkasten der U-Bahn-Kassiererin

Heute wieder so ein unappetitlicher Zwischenfall: In einer U-Bahnstation war es nach einem Defekt am Schalterautomaten zu einem Disput zwischen einer jungen Frau und der Bediensteten im Kassenhäuschen gekommen. Auch hier wieder: Sprich Französisch, sonst gibt’s Ärger! Die Passagierin ließ sich nicht einschüchtern, pochte auf ihr Recht, Englisch zu sprechen. Zeugenaussagen zufolge ließ die Kassenfrau daraufhin ihr Strickzeug stehen und liegen, stürzte sich auf die Passagierin, nahm sie in den Schwitzkasten und verletzte sie dabei. Der Fall wird zurzeit untersucht, passt aber voll ins Stimmungsbild, das von meiner sonst so geliebten Provinz Quebec ausgeht.

Salz in eine Wunde, die gerade am Heilen war

Zwischenfälle wie diese gibt es jetzt fast täglich. Angeheizt von der Anti-Anglo-Stimmung der politischen Meinungsmacher wird Salz in eine Wunde gestreut, die doch so schön am Heilen war. Dabei sind es ja nicht die Guillaumes, Marcs und Chantals auf der Straße, die das separatistische Gift versprühen. Die sind in aller Regel sehr in Ordnung und scheuen sich nicht, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Alle meiner Quebecer Freunde sprechen gut Englisch und sind richtig stolz darauf, zweisprachig zu sein.

Die Giftspritzen der separatistischen Regierung

Es sind vielmehr die Politiker, die in ihrem nationalistisch geprägten, profilneurotischen Wahn ohne Rücksicht auf Verluste auf ein Recht pochen, das sie ja durchaus haben und haben sollen: In Quebec gibt es nur eine Amtssprache – und die lautet Französisch. In Quebec gibt es aber auch Millionen Menschen, die nicht hier geboren und aufgewachsen sind und schon mit EINER neuen Sprache, meistens Englisch, überfordert sind. Und genau diese Menschen treffen die Giftspritzen der Regierung am härtesten.

Das Kuriose an der Sprachendiskussion hier ist: Viele der Quebecer Entscheidungsträger – allen voran Ministerpräsidentin Marois – schicken ihre Kinder auf englischsprachige Eliteschulen. Schon klar: Immer schön die Masse klein und dunkel halten, damit das eigene Licht heller leuchtet.

Willkommen in der Wirklichkeit

Spass in der Drehpause: Schattenspiele am Set.

Das Beziehungsdrama am Filmset steuert seinem Höhepunkt entgegen. Der alte Mann und das Mädchen kommen sich näher. Schlüpfrigkeit macht sich breit. Und während Theodores Welt am Set zusammenbricht, spielen sich im richtigen Leben – meinem Leben – Dramen ab, über die der Regisseur keine Kontrolle mehr hat. Wasserschaden im Loft. Und ein Kind, das um sein Leben kämpft.

Die Dreharbeiten für „Belle“ sind, zumindest für mich, abgeschlossen. Acht intensive Tage und Nächte in einer Lodge in den Bergen nördlich von Montreal. Umgeben von einer Gruppe von kreativen Menschen aus Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland und natürlich Kanada. Zwei Wochen lang zusammen leben, essen, arbeiten, diskutieren, singen, spielen, kochen, wandern … fühlen sich an wie Jugendfreizeit für Erwachsene.

Swimmingpool-Wasser im Entlüftungsschacht

Einen Tag vor dem regulären Ende der Dreharbeiten dann der Anruf aus der richtigen Welt: Wasserschaden im Loft. Nach einer S.O.S.-Kurzreise vom Filmset nach Montreal ist alles klar: Beim Entleeren des Swimmingpools auf der Dachterrasse im 5. Stock war Wasser in die Entlüftungsschächte geflossen. Warum das Salzwasser ausgerechnet bei uns wieder austrat, bleibt das Geheimnis des Großen Regisseurs. Was nützt das Lamentieren: Vier Tage werden die Instandsetzungsarbeiten dauern. Was wichtig und wertvoll ist, konnte Lore rechtzeitig in Sicherheit bringen. Keiner ist verletzt, keiner gestorben. Die Versicherung erledigt den Rest.

Abends dann wieder zurück zum Set. Partyszenen mit „den Kids“, wie wir unsere Schauspielertruppe im „Film im Film“ nennen. Ausgelassene Szenen mit lauter Musik, viel Alkohol (Traubensaft) und Drogen (Süßstofftabletten). Morgens um halb fünf ist der Dreh endlich abgeschlossen.

Zweiwöchige Achterbahnfahrt der Gefühle

Wieder in der vom Wasserschaden heimgesuchten Wohnung zurück, fühlen sich die vergangenen zwei Wochen an wie eine Achterbahnfahrt. Unwirkliche Szenen im Mondschein, bittere Kälte beim Picknick auf der Terrasse. Und permanent das Knistern zwischen „Theodore“, dem alten Botaniker, und „Mae“, der jungen Schauspielerin.

Drama in der alten Heimat

Und dann, als hätte Sterling, der Regisseur, seine Künste über den Film hinaus auf die Wirklichkeit ausgeweitet, das nächste Drama: Beim Surfen im Internet finde ich unser Haus wieder, in dem wir 25 Jahre gelebt und gearbeitet haben. Das zweijährige Kind der neuen Besitzer, die das Haus vor vier Monaten bezogen haben, kämpfte nach einem Epilepsieanfall mit dem Tode. Als der Krankenwagen dann endlich eintrifft, weigert sich der Rettungssanitäter, den besorgten Eltern den Zustand ihres Kindes auf Englisch zu erklären. „Wir sind hier in Quebec“, soll der Erste-Hilfe-Mann gesagt haben, „hier wird Französisch gesprochen“. Und, ja: Dem Kind geht es wieder gut.

Ein Skandal, in der Tat. Aber in der von separatistischem Gedankengut geprägten Provinz Quebec nichts Außergewöhnliches. Die empörten Eltern haben daraufhin die Medien alarmiert. Unser Haus, nein: unser früheres Haus, ist seither plötzlich in aller Munde und auf allen Bildschirmen.

Es sind verrückte Zeiten, die wir hier erleben. Ein bisschen wie im Film.

NACHTRAG: Die Geschichte mit dem Kind wird übrigens kein Nachspiel haben: Die Vereinigung der Rettungssanitäter ist der Meinung, der Erste-Hilfe-Mensch habe absolut richtig gehandelt. Es könne von einem Rettungssanitäter der Provinz Quebec nicht erwartet werden, dass er sich mit einer Familie auf Englisch unterhalte, egal, in welcher Notlage sie sich befindet. Ein Skandal! An Tagen wie diesen frage ich mich, warum ich noch immer in einem Land lebe, in dem ein poliitisch motivierter, kleingeistig ausgetragener Sprachenstreit wichtiger ist als die Gesundheit der Bevölkerung.

Ist Québec noch zu retten?

Was ist los mit meinen Landsleuten? Werden sie wirklich, wie bisher alle Meinungsumfragen vermuten lassen, am kommenden Dienstag eine separatistische Regierung wählen? Wenn es so wäre, stünden uns, die wir hier nicht geboren und aufgewachsen sind, harte Zeiten bevor.

Fangen wir mit der Sprache an: Französisch ist in Quebec die Amtssprache – wunderbar! Französisch ist eine tolle Sprache, die Herzen höher schlagen lässt. Wenn aber eine Sprache zum politischen Powertool instrumentalisiert wird, habe ich damit ein Problem. Und genau das ist in Quebec der Fall. Schon jetzt, da wir noch eine Liberale Regierung haben. Erst recht, falls die separatistische Parti Quebecois an die Macht kommen sollte.

So soll künftig Studenten der Zugang zu englischsprachigen Colleges erschwert werden. Im Grundschulbereich ist das ohnehin schon der Fall. Ein Gesetzesrelikt aus alten Zeiten schreibt vor: Eltern, die hier geboren sind, müssen (mit wenigen Ausnahmen) ihre Kinder auf französische public schools schicken. Und die, dies nur nebenbei, haben nicht gerade den besten Ruf.

Geografische Nabelschau: Wo liegt Deutschland?

Das fängt bei der geografischen Nabelschau an und hört beim Sprachenrassismus auf. So kennen Absolventen von Quebecer Grundschulen zwar jeden Hügel zwischen Vaudreuil und Tadoussac. Wo der Kilimandjaro liegt oder gar die Zugspitze, können sie allenfalls googeln. Und wozu Englisch lernen? Ici, on parle français! Die Englischkenntnisse, mit denen Quebecer Schulabgänger ins Leben geschickt werden, sind nicht einmal im Ansatz dafür geeignet, sich später auf internationalem Parkett zu bewegen.

Das politische Québec schottet sich bewusst vom Rest Nordamerikas ab. Es versteht sich mit seinen sieben Millionen Einwohnern als letzte französischsprachige Bastion im Meer der englischen Sünde.

Und jetzt soll also genau jene Partei, denen wir die Sprachenpolizei zu verdanken haben, an die Regierung kommen. Schon hat Madame Marois, so würde die künftige Ministerpräsidentin heißen, angekündigt, das Budget des Office québécois de la langue française aufzustocken. Könnte ja sein, dass die Bediensteten der Sprachenpolizei neue Maßbänder benötigen, um sicher zu sein, dass die französische Beschriftung in den Läden auch wirklich doppelt so groß ist wie die englische. Das ist kein Witz, das ist die Wirklichkeit. Das ist Gesetz.

Es fehlt an politischen Alternativen

Warum trotzdem so viele Quebecer in Scharen zu dieser nationalistisch geprägten Partei überlaufen, ist angesichts der nach rückwärts gerichteten Parteiplattform schwer nachzuvollziehen. Und dann wieder doch: Es fehlt an Alternativen.

Die derzeit regierende Liberale Partei ist unter ihrem Premier Jean Charest träge, dick und fett geworden. Und ideenlos. Wer glaubt, im Jahre 2012 mit Millionensubventionen die Asbestindustrie wieder auf Vordermann bringen zu müssen, gehört in den Kerker und nicht auf die Regierungsbank. Die Liberale Partei hat durch Korruption, Arroganz und Inkompetenz viele Wähler vergrault. Die dritte Partei im Bunde, die brandneue Coalition Avenir Québec, outet sich langsam aber sicher als eine weitere Partei, die Québec vom kanadischen Staatenbund loslösen möchte. Separatisten im Schafspelz, also. Andere politische Organisationen haben es in den meisten Wahlbezirken nicht auf die Stimmzettel geschafft, sieht man einmal von Québec solidaire ab, eine weitere Gruppierung von Leuten, die glauben, es gehe auch ohne Englisch in Kanadas zweitgrößter Provinz.

Was passiert, falls die Separatisten an die Macht kommen?

Was also würde eine separatistische Regierung bedeuten? Einen Vorgeschmack dessen, was auf uns zukommt, haben wir bereits in den 80er und 90er-Jahren erlebt. Auch damals regierte jahrelang die Parti Québecois.

Anglokanadier und Allophone, also Menschen, deren Muttersprache weder Englisch noch Französisch ist, würden sich zurecht gegängelt fühlen. Die Folge: Viele – auch viele Unternehmen – würden sich in anderen Provinzen Kanadas niederlassen, wo Englisch nicht als Makel angesehen wird, sondern als das, was es ist: eine Weltsprache. Der Exodus aus Québec würde wiederum bedeuten, dass hier Arbeitsplaetze vernichtet und die Immobilienpreise an Wert verlieren würden.

Der Keil zwischen Anglo- und Frankokanadiern

Vor allem aber würde eine separatistische Regierung bedeuten, dass das harmonische Zusammenleben zwischen Anglo- und Frankokanadiern fürs Erste nicht mehr gewährleistet wäre. Das, so finde ich, wäre das eigentliche Drama.

Aber vielleicht geschieht ja bis zum 4. September noch ein Wunder. Manchmal täuschen sich ja Demoskopen auch. Oft aber auch nicht.

Eine brillante Analyse des politischen Geschehens in Quebec hat der Journalist Terence McKenna fuer die Internetseite der Canadian Broadcasting Corporation (CBC) verfasst. Den englischen Text finden Sie hier.

Québec geht auf den Strich

Arme Québecer! Wie die Löwen kämpfen die Nationalisten unter ihnen um den Erhalt des Französisch im Meer der englischsprachigen Sünde. Und wenn freiwillig gar nichts mehr geht, rufen sie eben die Gerichte an. So soll „Metro“, eine der größten Supermarktketten des Landes, gezwungen werden, den fehlenden accent aigu auf das „e“ zu setzen.

Der Mann, dem der fehlende Strich gegen denselben geht, heißt Yves Michaud. Er hat Recht und er hat Angst. Recht, weil das berüchtigte Québecer Sprachengesetz „Bill 101“ tatsächlich Gewerbetreibenden vorschreibt, was in welcher Sprache, Schreibart und Schriftgröße sein muss. Angst, weil es um den Erhalt des Französisch in Québec geht.

„Wenn wir unsere Sprache nicht verteidigen“, sagt Monsieur Michaud, „wird Französisch in Nordamerika in ein paar Generationen aussterben“. Und weil er sich nicht mitschuldig machen möchte am Untergang des französischsprachigen Abendlands, hat er den Metro-Konzern vorsichtshalber mal bei der Québecer Sprachenpolizei angezeigt. Die wiederum reagierte blitzschnell für eine staatliche Behörde: Es sei mal wieder höchste Zeit für eine Aufklärungskamapgne. Und flugs wurde eine halbe Million locker gemacht, um Sprachen-Verbrecher wie Metro künftig stärker an die Kandare zu nehmen.

Der Supermarkt-Riese Metro zeigt sich bislang uneinsichtig. Der Akzent über dem „e“ in allen 220 Läden, inklusive Schilder, Werbung und Briefpapier, würde das Unternehmen 20 Millionen Dollar kosten. Diese Summe, so argumentiert der Sprecher der Kette, sei im Zeichen der Wirtschaftskrise nicht  zu verantworten. Wir warten also gespannt auf die Fortsetzung der Strich-Saga.

Das alles wäre ja noch ganz lustig, wenn nicht ein ziemlich perfides System dahinter stecken würde. Viele Frankokanadier in Québec wären nämlich am liebsten unter sich – „chez nous“, wie sie es nennen. Und weil sie es mit immer wieder neuen Referenden einfach nicht schaffen, ihre schöne Provinz aus dem kanadischen Staatenbund herauszulösen, drehen sie zwischendurch immer mal wieder politisch hohl. Dabei ist ihnen keine Idee zu abstrus. Und jetzt eben Metro.

Dass ich mich trotzdem sauwohl fühle in dieser facettenreichen Québecer Gesellschaft, hat mit dem Lebensgefühl zu tun. Die Mischung aus „savoir vivre“ und „American way of life“ ist schwer zu toppen. Und: Da wir weder als Anglo-, noch als Frankokanadier gelten, dürfen wir den Sprachen-Zirkus von unserem warmen Logenplatz aus genüsslich als Zuschauer verfolgen. Offiziell gelten Hybrid-Geschöpfe wie wir nämlich als „Allophone“.