Silvester: Cool. Cooler. Bitterkalt!

Screenshot © CBC
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Der heutige Silvesterabend dürfte einer der kältesten werden, den ich in Kanada je erlebt habe. Wenn ich ihn erlebe. Gefühlte minus 30 Grad sollen es in der Nacht werden.

Ausgerechnet heute, da wir es um Mitternacht in Alt-Montreal krachen lassen wollen. Mit voraussichtlich 50 000 anderen, die sich auf dem Place Jacques Cartier versammeln, um das neue Jahr zu begrüßen.

Nix da warme Stube. Mit Liveband und Feuerwerk und ganz vielen Küsschen werden wir unten am Hafen die 13 durch die 14 ersetzen.

It is shaping up to be one cold sonofabitch!”, warnt mich Partykumpel Doug in seiner Mail. Was soviel heißt wie: “Sind wir eigentlich bescheuert?”

Damit der Prosecco nicht in der Flasche gefriert, haben wir uns für heute Abend einen coolen Trick ausgedacht. Wir trinken einfach schneller. (Eben kommt per Mail ein Tipp von meinem Uraltkumpel Joachim: „Wenn Ihr gleich zum Wodka übergeht, braucht Ihr nicht ganz so schnell zu trinken!„)

In Montreal mag es zwar klirrend kalt werden. Im Vergleich zu meinen Freunden im westkanadischen Manitoba haben wir hier geradezu T-Shirt-Wetter. In Winnipeg werden minus 50 Grad erwartet.

 Frohes Neues Jahr!  Happy New Year!  Bonne Année! 

Und hier noch das Wetter in Winnipeg/Manitoba:

wetter

Polizisten gehen auf Zauberer los

Wo sind wir denn hier? Mitten während seiner Vorstellung gehen mehrere Montréaler Polizisten auf einen Streetperformer los, kesseln ihn ein, liefern sich einen Ringkampf mit ihm, legen ihm Handschellen an und werfen ihn schließlich ins Gefängnis.

Das Verbrechen von Stephane, über den ich auch schon im Blog geschrieben hatte? Er hielt sich nicht exakt an die städtischen Bestimmungen, was Ort und Uhrzeit seiner Gaukler-Show betrifft.

Das skandalöse Vorgehen der Polizei gegen Stephane wühlt mich auf und macht mich traurig. Polizei-Brutalität in meiner geliebten Stadt ist leider auch sonst keine Seltenheit, wie schon früher im Blog nachzulesen war.

Übrigens: Stephane hat Frau, zwei Kinder und ein Häuschen. Um sich diesen bescheidenen Luxus leisten zu können, arbeitet er tagsüber bei der städtischen Müllabfuhr und abends auf der Place-Jacques-Cartier als Zauberer und Feuerschlucker.

Dass die Polizei auf Stephane während seiner Vorstellung losgegangen ist, macht diese groteske Aktion nur noch schlimmer. Immerhin waren im Publikum Kinder, wie das inzwischen weit verbreitete YouTube-Video zeigt.

Tolle Touristenwerbung für Montréal. Gut gebrüllt, Bullen!

Beruf: Rasierklingen-Schlucker

Steve singt Lady Gaga und ist fast 50. Peter schluckt Rasierklingen, spielt mit chinesischen Ringen und geht dabei locker auf die 60 zu. Auch Stéphane erreicht bald das Rentenalter. Bis dahin fährt er auf dem Einrad übers Trottoir. Und jongliert nebenher lässig mit brennenden Fackeln. Meine Freunde, die Montréaler Streetperformer, werden älter.

Herbert '64: Paris ruft!

Ich hatte schon immer ein Herz für Gaukler, Artisten, Musiker. Meinen ersten Auftritt als Straßensänger hatte ich im August 1964 in Paris. Mit meinem Kumpel Henry waren wir von Ummendorf durch den Schwarzwald und tief nach Frankreich getrampt. Wir waren 15. Unseren Eltern hatten wir erzählt, wir würden Verwandte auf der Schwäbischen Alb besuchen. In Paris stellten wir uns auf den Montmartre und spielten Banjo und Gitarre. Wir sangen „Blowing in the Wind“ und Universal Soldier“. Die Baskenmütze, die wir vor uns hingelegt hatten, quoll schon bald über. Manchmal traten wir auch vor den Pariser Markthallen auf, oder am Gare du Nord.

Als wir zwei Wochen später wieder zu Hause waren, hatten wir mehr Scheine in der Tasche als bei unserer Abreise. Meine Eltern befürchteten, ich würde als Straßenmusiker enden. Mir schien jedoch der Journalismus eine brauchbare Alternative zum Leben auf der Straße.

Ich kenne ein halbes Dutzend Streetperformer in Montréal, die gar nie nach einer Alternative gesucht haben. Für sie war klar, dass sie als Zauberer, Sänger, Feuerschlucker in Rente gehen würden.

Steve: Genug zum Leben

Steve hatte während der Uni angefangen, auf der Rue Ste. Catherine Gitarre zu spielen. „Ich hatte immer genügend Kohle“, erzählte er mir vor ein paar Tagen, „um mich über Wasser zu halten“. Also ist er Straßenmusiker geblieben. Im Winter nimmt er eine CD auf, die er im Sommer aus dem Gitarrenkoffer heraus verkauft. Ab und zu tritt er in einer Bar in St. Henri auf. Im Sommer spielt er auf der Place Jacques-Cartier. Vorige Woche hat er sich nach 15 Jahren die erste neue Gitarre gekauft. Eine GUILD-Cutaway für 600 Dollar. Ein Vermögen für einen, der am Abend mit Münzen nach Hause geht. Aber von einer GUILD  hatte Steve schon immer geträumt. Jetzt wird sie ihn wohl bis zur Rente begleiten.

Peter ist Engländer und kam vor 35 Jahren als Zauberer nach Montréal. Die Chinesischen Ringe beherrscht er wie kein anderer. Außerdem ist er der Einzige unter den Gauklern hier, der zwölf Rasierklingen schluckt. Anschließend zieht er sie, schön aufgereiht auf einem Stück Zahnseide, wieder aus dem Hals. Im Winter unterrichtet er Thai Chi und schreibt nebenher an einem Buch über Zaubertricks.

Stéphane: Häuschen mit Pool

Stéphane hat zwei erwachsene Kinder, ein Haus und einen kleinen Swimmingpool. Tagsüber arbeitet er für die Müllabfuhr. Nach Feierabend tritt er auf der Place Jacques-Cartier auf. Er fährt Einrad, jongliert mit Schwertern und brennenden Fackeln und erzählt dabei Witze, die seine Frau übrigens als schwer sexistisch einstuft. Er kann es trotzdem nicht lassen. Seine Frau ist Pferdekutscherin. Als Aktivistin im lokalen Tierschutzverband setzt sie sich dafür ein, dass die Pferde immer genug zu trinken haben.

Peter: Stolze Mama

Peter, der Magier, ist vor ein paar Tagen aus London zurück gekommen.  Er hat dort seine 83jährige Mutter besucht. „Sie ist sehr stolz auf mich“, sagte er mir. Dabei wischte er sich ein paar Tränen aus den Augen. Peter hatte seiner Mutter ein Exemplar der „Montreal Gazette“ mitgebracht. Dort ist er als Rasierklingen-Verschlinger zu sehen. „Mal ehrlich“, sagt Peter: „Welche Mutter wäre nicht stolz darauf, ihren einzigen Sohn in der Zeitung zu sehen? Und auch noch vor Publikum!“

Wahre Mutterliebe ist: Stolz sein auf den Sohn, der als Rasierklingen-Schlucker in Rente gehen kann.