Die alten Männer und das Floß

Fünf Buchstaben nur und wir bekommen die Krise: Umzug. Kein großes Ding, eigentlich. Nur vom Land in die Stadt, gerade mal 45 Kilometer. Doch genau diese 45 Kilometer sind es, die jetzt schon seit Wochen unser Leben bestimmen. Was bleibt? Was geht? Was landet bei der Heilsarmee, was wird versilbert? Dabei hängt die Entscheidung meistens nicht vom monetären Wert des jeweiligen Gegenstands ab, sondern von seiner Geschichte.

Reden wir übers Klavier. Es bleibt bei den künftigen Besitzern unseres Hauses. Aber der dazu gehörige Hocker kommt mit uns. Alles hat seinen Grund. Das Kneipenklavier, auf eine Zeitungsanzeige hin gekauft, hat wenig Geschichte. Sieht man einmal davon ab, wie drei stämmige Quebecer und ein deutscher Lehrer das Ding in unser damals fast noch jungfräuliches Wohnzimmer gewuchtet haben.

Piano geht, Hocker bleibt.

Der Hocker dagegen kann viele Geschichten erzählen. Eine davon ist, wie ausgerechnet Doug, ein sonst eher nüchterner Freund, den Hocker ums Haar zerquetscht hätte, weil er meinte, in Partylaune Twist auf ihm tanzen zu müssen. Die andere Geschichte hat mit Bob zu tun, wieder ein Freund, dessen Aufgabe als Physikprofessor es jetzt nicht unbedingt war, Bewegungsabläufe auf Klavierhockern zu studieren und notfalls zu korrigieren. Aber er hat aus einem fast zertrümmerten Hocker in mühsamer Kleinarbeit ein wunderbares Kleinod geschaffen, das uns seit Bobs Tod vor einem Jahr noch mehr ans Herz gewachsen ist. Keine Frage: Der Hocker bleibt.

Biedermann auf Reisen: Von Waiblingen über Winnipeg nach Montréal

Reden wir über den Biedermeierschrank. Wuchtig und alt und schwer wie Hund. Aber ein Erbstück, weit über 150 Jahre alt. Vater hatte es mir mit auf den Weg gegeben, als ich damals in Waiblingen meine erste Bude möblieren musste. Als dann der Reporterjob in Winnipeg rief, füllte der Schrank fast die Hälfte des Umzugscontainers aus. Und natürlich musste er auch die anschließende Reise von Manitoba nach Montréal über sich ergehen lassen. Jetzt stellt er uns, als wäre er um die halbe Welt geschickt worden, um uns zu ärgern, wieder vor eine fast unlösbare Aufgabe. Eigentlich ist er viel zu klobig für die Wohnung in der Stadt. Aber er darf mit. Eiche eben. In Treue fest.

Nicht so das Apotheker-Schränkchen, die hölzerne Reisetruhe vom Flohmarkt und der TripTrap, der wohl berühmteste Kinderhochsitz der Welt. Nur: Es wird keine Kinder mehr in unserem Haushalt geben. Und doch will sich keiner vom TripTrap trennen. Auch nicht vom Apotheker-Schränkchen, von der hölzernen Koffertruhe und von der Spiegelkommode, die es bei Finnegan’s Flea Market einmal für gutes Geld gab. Und damit es all die lieb gewordenen Möbelstücke kuenftig besonders schoen haben, wurden sie jetzt auf eine abenteuerliche Reise zum Blockhaus am See geschickt.

Mit Sack und Pack über den Lac Dufresne

Dazu muss man wissen, dass unser Häuschen am Lac Dufresne tatsächlich an einem schwer zugänglichen Seeufer liegt und nicht mit dem Auto zu erreichen ist. Also musste ein kleines Transportfloß her, um Truhe, Schränkchen, TripTrap und tausend Kleinigkeiten unversehrt übers Wasser zu schippern. Zwei Männer in den Siebzigern, der eine ein ausgestiegener Richter, der andere ein ehemaliger Sonderschullehrer, der auf einer Insel im Lac Dufresne wohnt, packten mit an. Besser gesagt: Sie packten an, wir halfen mit. Huckleberry Finn lässt grüßen: Drei nicht mehr ganz junge Männer und (m)eine etwas jüngere Frau, umgeben von alten Möbelstücken und tausenden von Moskitos, treiben an einem schwülen Frühsommertag auf einem flachen Lastkahn über einen kanadischen Bergsee. Nach getaner Arbeit dann Pizza, Prosecco und auch etwas Pathos. Bis bald, Möbel!

Allein schon wegen dieser Geschichte musste dieser Umzug sein. Und ich habe das Gefühl, es werden noch weitere folgen. Umzüge. Und Geschichten.

Mensch, Richard!

Wenn gute Menschen gehen, ist es immer zu früh. Richard war einer der Besten. Jetzt ist er gegangen. Immerhin schenkte ihm das Leben 81 Jahre. Richard Retter war mein erster Chefredakteur. Aber er war viel mehr als das. Er war mein Mentor und mein Freund. Er hat in mir – und einer ganzen Generation von Kolleginnen und Kollegen – das Feuer für den Journalismus entfacht.

„Ritchie“ nannten sie ihn. „Ritchie komm runter, da ist einer, der will Redakteur werden“. Ich kann mich noch genau an das erste Treffen mit Richard Retter erinnern. Es war im Spätsommer 1967 und der Pförtner des Pressehauses in Waiblingen war ein kleiner, rundlicher Mann namens Karl Rettich.

Nachruf auf Richard Retter von Hans Pöschko

Dass der Pförtner Rettich hieß und den Chefredakteur „Ritchie“ nannte, gefiel mir gut. Dass der Chef den Bewerber nicht „hochkommen“ ließ, sondern sich für ihn nach unten bequemte, fand ich nicht nur in sportlicher Hinsicht beeindruckend. Ein Mensch, der Menschen auf Augenhöhe begegnet. Wie er dann so vor mir stand, dieser Ritchie, mit Cord-Jeans, Wildleder-Boots und Baumwollhemd, war mir klar: Der wird’s. Hoffentlich. Er wurde es denn auch. Mein Chefredakteur, mein Ausbilder, mein Vertrauter. Und später, als ich journalistisch längst in Kanada Fuß gefasst hatte, auch mein Freund. Zweimal haben er und Monika uns in Montréal besucht. Auch mit Karin, die vom Vater das Talent fürs Schreiben geerbt hat und heute selbst eine Redaktion leitet, verbindet mich eine lange Freundschaft.

In der Lokalredaktion, die Richard Retter leitete, herrschte ein Klima, wie ich es nie mehr gefunden habe. Souverän im Umgang mit den Kollegen. Stilsicher im Auftreten und in der Schreibe. Kontrovers: manchmal. Kritikresistent: nie.

„Leute, lasst es menscheln!“, war eine der Ansagen, die Richard Retter dem Journalistennachwuchs immer wieder einbläute. „Human touch“ durfte man zwar auch schon sagen. Aber „Lass es menscheln“ passte irgendwie besser zu Richard. Die Geschichten hinter den Geschichten wollte er in seinem Blatt haben. „Wir machen hier doch keinen Verlautbarungs-Journalismus“, hörten wir ihn manchmal in der Konferenz poltern. „Menschen interessieren sich für Menschen, nicht für Bestimmungen“. Also ließen wir es menscheln in unseren Reportagen, interpretierten die Bestimmungen eben so, dass Menschen damit etwas anfangen konnten.

Richard war das, was man im Remstal einen „Weinzahn“ nennt und hatte damit ein Talent, das man zu seinem Hobby machen sollte, wenn man es kann. Richard konnte es. Und betrachtete es als seine Aufgabe, einem Ummendorfer, der frisch aus der oberschwäbischen Apfelmost-Diaspora ins Remstäler Trollingerland gespült worden war, den aufrechten Schluck beizubringen.

Der Härtetest: Erste Weinprobe mit dem Chefredakteur

Weinproben sind eine heikle Sache und erfordern viel Übung. Richard hat in seinem Leben fleißig geübt. Und weil es, zumindest in Richard Retters Augen, auch zu den Aufgaben des Chefredakteurs gehörte, den Journalistennachwuchs auf die richtigen Tropfen einzustimmen, nahm er mich mit zur ersten Weinprobe meines Lebens. Nach Beutelsbach, in die Remstalkellerei.

Auf der Hinfahrt im PH-1, so hieß unser Dienst-VW, briefte der große Meister seinen Zögling: „Du nimmst aus jedem Glas einen kleinen Schluck und schüttest den Rest weg.“ Diese Art der Verschwendung köstlicher Weine wollte mir zwar nicht einleuchten, aber bitte, wenn man das hier so macht. In Ummendorf musste immer alles leergetrunken weden.

Bei den ersten drei, vier Sorten hielt ich mich dann auch noch an Richards Regeln. Aber mit jedem zusätzlichen Probierglas schwand meine Bereitschaft, nach einem Schluck aufzuhören und den Rest einem Spülbecken anzuvertrauen. Also trank ich. Und probierte. Und trank. Und irgendwann probierte ich nur noch zu trinken. Und war sturzbetrunken.

Weil dieser Zustand mangels Erinnerung im Nachhinein nur anekdotisch wiedergegeben werden kann, muss ich davon ausgehen, dass es Richard war, der mich nach einem feuchten Diensttermin wohlbehalten bei meiner Zimmervermieterin abgegeben hat.

So gesehen war meine erste Weinprobe ein voller Erfolg. Prost, Richard. Und: Danke!

Peter Maffay: Danke, Du!

Mein 2CV, Wäschetrockner inklusive, auf dem Parkplatz der Kreiszeitung (ca. 1972).

Eben habe ich mir im Internet die letzte „hart aber fair”-Sendung angesehen. Klasse. Einer der Gäste war Peter Maffay. Ein großer, kleiner Mann. 168 Zentimeter Power. Ich habe Peter Maffay 1972 getroffen. Als Lokalreporter für die Waiblinger Kreiszeitung. In meiner Stammdisco hatte er eine Autogrammstunde gegeben. Anschließend fuhr ich ihn mit meinem 2CV zum Interview in die Redaktion. Während der Fahrt im Döschwo schrieb er mit einem Filzstift auf die Sonnenblende: „Danke, Du! Peter Maffay”.

„DU“ war eine Zeitlang ein Schimpfwort unter coolen Jungs. Oder solchen, die sich dafür hielten. Auf meiner Sonnenblende sahen diese zwei Buchstaben aus wie ein Ritterschlag. „DU“ war eine Schlagerschnulze, die eigentlich gar nicht ging. Und doch wurde in deutschen Diskotheken während der 60er und 70er-Jahre vermutlich nie inniger geknutscht als zu den Tönen von „DU“. Mehr als ein halber Millimeter Körperabstand war bei diesem Song einfach nicht möglich. Als Plasberg jetzt bei „hart aber fair“ von Peter Maffay wissen wollte, ob dieses Lied Fluch oder Segen für ihn wurde, antwortete der ganz cool: „Es wurde ein Hit“.

Klar, dass die Sonnenblende bis zum Verkauf meines 2CV nie wieder gewaschen wurde. Wer sie berührte, musste mit Glacé-Handschuhen ran. Da war ich eigen. Ich wollte nie wieder ohne mein ganz persönliches Peter-Maffay-DU sein. Die Autofahrt und das anschließende Interview mit Peter Maffay waren meine erste Begegnung mit einem berühmten Menschen. Ich kannte sonst keinen, über den man in „Bravo“ lesen konnte. Er war schon damals ein Großer. Ob er, wie er jetzt bei Frank Plasberg schalkte, damals hohe Absätze getragen hat, um größer zu erscheinen, weiß ich nicht. Menschliche Größe in Zentimeter zu messen, war nie mein Ding.

Peter der Große machte sich eher klein. Er wollte die Druckerei sehen. Und die Setzerei. Die Männer, die Rotationsrollen vom Laster ins Lager schoben, begrüßte er einzeln mit Handschlag. Als ich ihn zum Mittagessen in die Verlags-Kantine mitnahm, verstummte dort die komplette Belegschaft. Stille. Mehr an Huldigung geht nicht im Schwäbischen.

Ich weiß noch genau, was es an diesem Tag zu essen gab: Gaisburger Marsch. Kartoffel-Gemüse-Spätzle-Eintopf. Frau Haug, die Frau des Hausmeisters, siezte Herrn Maffay beim Servieren. Der sagte: „Sie können ruhig DU sagen. Das machen doch alle.“

Frank Plasberg machte es in der „hart aber fair“-Sendung nicht. Dass Frank den Peter, den doch alle duzen, siezte, hat vermutlich mit ARD-Gepflogenheiten zu tun. Sicher auch mit Respekt. Diesen Respekt hat Peter Maffay verdient, finde ich. Ein Junge aus Rumänien, der mit seiner Band als Vorgruppe bei einem Stones-Konzert mit Kürbissen, Kartoffeln und Tomaten beworfen wird und trotzdem weiter macht – bravo!

Du, Peter: Danke!