Der Tag, an dem alles anfing

2. Mai 1968. Kaum ein anderes Datum hat mein späteres Leben so geprägt wie dieser Donnerstag vor 44 Jahren. Mein erster Tag als Journalist. Das heißt: Natürlich ist man an seinem ersten Tag in einer Redaktion noch kein Journalist. Aber mit dem ersten Arbeitstag als Volontär beim „Zeitungsverlag Waiblingen“ war der Grundstein für meine spätere Laufbahn gelegt.

Das Redaktionsvolontariat dauert in der Regel zwei Jahre und ist, damals wie heute, eine der Grundvoraussetzungen für künftige Journalisten. Am 2. Mai 1968 war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich mich „Journalist“ nennen durfte. Das Feuer für den Beruf des Reporters war schon einige Jahre früher entfacht worden. Aber jetzt, an diesem kühlen Frühlingstag im Remstal bei Stuttgart, war der Grundstein für eine solide Ausbildung gelegt. An einem Schreibtisch nur für mich. Mit einem Telefon, das ich mir mit Horst, dem Sportredakteur, teilte. Und einer schwarzen, gusseisernen Schreibmaschine, der ich in den nächsten Jahren noch Hunderte von Geschichten einhämmern würde.

Der Auftakt war wenig spektakulär. Ein Pressefotograf namens Dieter hatte, Jeans, T-Shirt, Running Shoes, lässig tänzelnd einen Packen Schwarzweiß-Bilder von einer Demonstration auf meinen Schreibtisch geknallt. „Und jetzt?“, fragte ich zaghaft. Dieter zog kurz an seiner Pfeife, zuckte mit den Schultern, murmelte noch etwas von einer „Maikundgebung“ – und weg war er wieder. Rasender Reporter eben. Das gefiel mir gut.

„Such eins raus und mach die Bildunterschrift dazu“, tönte es ziemlich freundlich, aber auch ziemlich bestimmt aus dem Zimmer nebenan. Dort saß Richard Retter, der Chefredakteur. Namen und ein paar Eckdaten zur Kundgebung hatte der Fotograf dazu geliefert. Also tippte ich auf der kleinen Schwarzen meinen Bildtext und ließ ihn vom Chefredakteur abzeichnen. Unverändert! Darauf war ich ziemlich stolz. „Und jetzt setzt du noch dein Kürzel drunter“, sagte der Mann, dem ich mein berufliches Schicksal anvertraut hatte. Ein Kürzel nur? Kein voller Name?. „Noch nicht“, schmunzelte der Boss. „Nicht bei 15 Zeilen!“ Hmmm …

Ein Kürzel brauchte ich also. HB? Nicht gut. Klang nach Zigaretten und „Nur nicht in die Luft gehen!“ BH? Ging gar nicht. „HeBo“, schoss es aus mir heraus. So nannten mich meine Freunde in Ummendorf. Zwei Buchstaben aus dem Vornamen, zwei aus dem Nachnamen. „HeBo“ klang für mich gut und schlüssig. „HeBo“ geht nicht, holte mich der Chef von meiner Wolke herunter. „Wir verwenden hier höchstens drei Buchstaben als Kürzel“. So wurde eben „heb“ daraus. Drei Buchstaben aus meinem Namen. Stolz wie Oskar. Wenn das Vater wüsste!

Für den Blick in den Schaukasten, in dem am nächsten Morgen die druckfrische Zeitung aushing, war mir kein Fußweg zu weit. Ein dreispaltiges Schwarzweiß-Bild mit 15 Zeilen Text. Dahinter der Name des Fotografen. Und ganz weit rechts in der Ecke noch drei Buchstaben, die mich ein Leben lang begleiten sollten: heb. Der Gang zur Vitrine in der Waiblinger „Querspange“, wo sämtliche Zeitungsseiten aushingen, gehörte jetzt zum täglichen Ritual.

Ein Kollege aus Waiblinger Zeiten würde an dieser Stelle todsicher eine Anekdote erzählen, deren Richtigkeit ich – wie peinlich! – leider bestätigen muss. Sie handelt von einem Jungspund aus Ummendorf, der auszog, um Journalist zu werden. Dieser Jungspund schmuggelte sich gelegentlich anonym in die lesende Menschentraube vor dem Zeitungsaushang, um mit geschwellter Brust für alle Anwesenden unüberhörbar die Schreibkünste eines gewissen „heb“ zu loben.

Eitel? Wir doch nicht!        (heb)

Reporter-Einsatz in Afrika

Manchmal genügen eine kleine Geste, eine kurze Mail, um an seine Anfänge erinnert zu werden. Mein Kumpel Klaus meldet sich eben aus Hammamet in Tunesien. Osterurlaub mit Frau und Kids. Weg vom Berliner Winter, der sich Frühling schimpft. Was Klaus nicht wissen kann: Meine allererste Auslandsreise als Journalist führte mich ebenfalls nach Hammamet. Das war 1969.

„Geh da hin!“, hatte Chefredakteur Richard Retter entschieden. Wer 20 ist und sich seine Sporen als Journalist erst noch verdienen muss, lässt sich nicht zweimal bitten, nach Afrika zu reisen. Auch wenn es nur Nordafrika ist, klang es ungemein exotisch, fern und fremd: Tu-ne-si-en! „Warum Tunesien?“, will ich vom Chef wissen. „Die bauen dort unten ein Hotel nach dem anderen und hoffen auf den großen Durchbruch im Tourismus“.

Aber was hatte ein Lokalredakteur ausgerechnet in Tunesien zu suchen? Die Wahrheit ist: Nichts. Aber der beste Chef, den ich je hatte, war nicht nur ein glänzender Journalist. Er war auch Stratege durch und durch. Mit Gesten wie diesen verstand es Richard Retter, Nachwuchsjournalisten bei Laune zu halten. So war die Afrikareise ein Ausgleich für viele, oft gähnend langweilige Stadtratssitzungen und andere Abendtermine, die so ein Jungredakteur über sich ergehen lassen muss.

Du bist jung und du willst reisen

Was der alte Fuchs eher nebenbei erwähnte, mich aber nicht weiter störte: Die Auslandsreise kostete den Verlag keinen Pfennig. Ein Reiseveranstalter hatte eine Handvoll Journalisten eingeladen, die Werbetrommel zu rühren. Heute ein höchst verwerfliches Unterfangen, weil Kommerz und objektiver Journalismus nicht zusammen passen. Aber du bist jung und hast kein Geld. Und du willst reisen. Wo ist das Problem?

Die Trip von Stuttgart nach Hammamet war meine erste Flugreise überhaupt. Aber ich würde einen Teufel tun, meine Flieger-Premiere durch unsicheres Jungspund-Verhalten an die große Glocke zu hängen. Cool sein galt auch damals schon als cool. Nur hieß es damals noch „modern“, oder „fortschrittlich“. Cool im Sinne von cool war noch weit weg. Ich hatte übrigens nicht den Eindruck, dass die anderen Mitreisenden in dieser fliegenden Sardinenbüchse schon mal geflogen waren. Aber auch sie beherrschten die Spielregeln des Weltbürgers vom Lande perfekt. Fliegen? Pah! Jede Woche. Mindestens. Ach was, täglich!

Am Strand von Hammamet 1968 © Bopp

An die Ankunft in Hammamet erinnere ich mich aus zweierlei Gründen noch sehr genau. Zum einen war es heißer als ich es je zuvor erlebt hatte. So heiß, dass selbst das tunesische Begrüßungskommitee unter den schneeweißen Kaftans schwitzte. In besonders schöner Erinnerung geblieben ist mir jedoch der Song, der zur Begrüßung der Tourismus-Pioniere aus dem Schwabenländle gespielt wurde. Eine Band, für die am Flughafen eigens eine kleine Tribüne aufgebaut worden war, spielte „In The Summertime“ von Mungo Jerry. Einen cooleren Sommerhit hatte ich bis dahin nie gehört. Und möglicherweise auch danach nicht.

Zur Begrüßung: Jasminsträuße und Mungo Jerry

Alles passte. Auch die tunesischen Mädchen, die Touristen und Journalisten mit Jasmin-Sträußchen begrüßten. Und die Jungs, die, als würde Mungo Jerry alleine seiner Aufgabe nicht gerecht, unentwegt ihre Bongos traktierten. (Von denen ich später, natürlich, ein Exemplar als Souvenir mit nach Hause nehmen würde).

Das erste Hotel, das es zu testen galt, war eine Ansammlung von kleinen Bungalows, unweit vom Strand. Theoretisch hätte man bei klarer Sicht bis nach Sizilien sehen müssen. Aber was ist schon Sizilien/Europa gegen Hammamet/Afrika. Das zweite Hotel war ein für damalige Verhältnisse ziemlich ungehobeltes Stück Architektur, ein Klotz von einem Betonbau, wie sie später noch zigtausendfach an jedem Strand der Welt aus dem Boden gestampft wurden.

Im Hotel Nummer eins unterschied sich das Essen nur in Details von dem, was ich bis dahin kannte. Es wurden zwar weder Spätzle noch Maultaschen serviert, aber Spaghetti, Steak und allerlei Hirse- und Gemüsesorten. Kein Kartoffelsalat. Im zweiten Hotel gab es jeden Tag drei Speisen zur Auswahl: Lamm mit Reis, Lamm mit Couscous und gegrilltes Lamm. Dabei war Ostern längst vorbei.

Mit dem Landrover in Richtung Libyen

An irgendeinem dieser glühend heißen Wüstentage stand ein verbeulter und auch sonst arg geschundener Landrover vor dem Hotel. Der Reiseveranstalter hatte den 4Wheeler einigen Journalisten zur Verfügung gestellt. Zusammen mit ein paar Kollegen ging es durch die Wüste, nach Nabeul, und weiter in Richtung Libyen. Irgendwann fing die Wüste an zu leben. Am Rand der staubigen Schotterstraße tauchten Kamele auf, eine ganze Herde davon. Armin, an diesen Namen erinnere ich mich noch genau, Armin aus Nürnberg stand auf die Bremse. Keiner von uns hatte je zuvor Kamele in der freien Wildbahn gesehen.

Wir ließen den Landrover am Straßenrand stehen und machten uns zu Fuß in Richtung Savanne auf, wo die braunen Riesen gemächlich Wasser zu sich nahmen. Gänsehaut! Das Gefühl, das mich beim Anblick dieser Kolosse beschlich, ist noch am ehesten vergleichbar mit dem erregten Schaudern, das viele Jahre später der erste Grizzlybär im Yukon bei mir auslöste.

Schlachtruf der Wüstenkinder: „Chiclets! Chiclets!“

So fasziniert waren wir von diesen Wüstenschiffen, dass keiner von uns den Jeep im Auge behalten hatte, der uns wieder nach Hammamet zurück bringen sollte. Hatten wir uns wenige Minuten zuvor noch mitten in der Wüste wie die einzigen Erdbewohner gefühlt, so wurden wir jetzt Zeuge eines kleinen Menschenauflaufs: Ein Dutzend Kinder oder mehr hatten sich Zugang zum offenen Landrover geschaffen. „Chiclets! Chiclets!“, tönte es jetzt wie ein Schlachtruf aus dem Mund der Kinder. Kaugummi wollten sie haben. Als hätte jeder Weiße eine Tasche voll Pfefferminzgummi in petto.

Den Chiclets-Chor habe ich nie vergessen. Noch heute stecke ich mir ein paar Packungen Kaugummi in die Tasche, wenn ich in abgelegenen Gegenden unterwegs bin. Und als Schlachtruf habe ich „Chiclets! Chiclets!“ zum letzten Mal vor einigen Jahren in Kuba wieder gehört. Aber kein Kamel weit und breit.

Mensch, Richard!

Wenn gute Menschen gehen, ist es immer zu früh. Richard war einer der Besten. Jetzt ist er gegangen. Immerhin schenkte ihm das Leben 81 Jahre. Richard Retter war mein erster Chefredakteur. Aber er war viel mehr als das. Er war mein Mentor und mein Freund. Er hat in mir – und einer ganzen Generation von Kolleginnen und Kollegen – das Feuer für den Journalismus entfacht.

„Ritchie“ nannten sie ihn. „Ritchie komm runter, da ist einer, der will Redakteur werden“. Ich kann mich noch genau an das erste Treffen mit Richard Retter erinnern. Es war im Spätsommer 1967 und der Pförtner des Pressehauses in Waiblingen war ein kleiner, rundlicher Mann namens Karl Rettich.

Nachruf auf Richard Retter von Hans Pöschko

Dass der Pförtner Rettich hieß und den Chefredakteur „Ritchie“ nannte, gefiel mir gut. Dass der Chef den Bewerber nicht „hochkommen“ ließ, sondern sich für ihn nach unten bequemte, fand ich nicht nur in sportlicher Hinsicht beeindruckend. Ein Mensch, der Menschen auf Augenhöhe begegnet. Wie er dann so vor mir stand, dieser Ritchie, mit Cord-Jeans, Wildleder-Boots und Baumwollhemd, war mir klar: Der wird’s. Hoffentlich. Er wurde es denn auch. Mein Chefredakteur, mein Ausbilder, mein Vertrauter. Und später, als ich journalistisch längst in Kanada Fuß gefasst hatte, auch mein Freund. Zweimal haben er und Monika uns in Montréal besucht. Auch mit Karin, die vom Vater das Talent fürs Schreiben geerbt hat und heute selbst eine Redaktion leitet, verbindet mich eine lange Freundschaft.

In der Lokalredaktion, die Richard Retter leitete, herrschte ein Klima, wie ich es nie mehr gefunden habe. Souverän im Umgang mit den Kollegen. Stilsicher im Auftreten und in der Schreibe. Kontrovers: manchmal. Kritikresistent: nie.

„Leute, lasst es menscheln!“, war eine der Ansagen, die Richard Retter dem Journalistennachwuchs immer wieder einbläute. „Human touch“ durfte man zwar auch schon sagen. Aber „Lass es menscheln“ passte irgendwie besser zu Richard. Die Geschichten hinter den Geschichten wollte er in seinem Blatt haben. „Wir machen hier doch keinen Verlautbarungs-Journalismus“, hörten wir ihn manchmal in der Konferenz poltern. „Menschen interessieren sich für Menschen, nicht für Bestimmungen“. Also ließen wir es menscheln in unseren Reportagen, interpretierten die Bestimmungen eben so, dass Menschen damit etwas anfangen konnten.

Richard war das, was man im Remstal einen „Weinzahn“ nennt und hatte damit ein Talent, das man zu seinem Hobby machen sollte, wenn man es kann. Richard konnte es. Und betrachtete es als seine Aufgabe, einem Ummendorfer, der frisch aus der oberschwäbischen Apfelmost-Diaspora ins Remstäler Trollingerland gespült worden war, den aufrechten Schluck beizubringen.

Der Härtetest: Erste Weinprobe mit dem Chefredakteur

Weinproben sind eine heikle Sache und erfordern viel Übung. Richard hat in seinem Leben fleißig geübt. Und weil es, zumindest in Richard Retters Augen, auch zu den Aufgaben des Chefredakteurs gehörte, den Journalistennachwuchs auf die richtigen Tropfen einzustimmen, nahm er mich mit zur ersten Weinprobe meines Lebens. Nach Beutelsbach, in die Remstalkellerei.

Auf der Hinfahrt im PH-1, so hieß unser Dienst-VW, briefte der große Meister seinen Zögling: „Du nimmst aus jedem Glas einen kleinen Schluck und schüttest den Rest weg.“ Diese Art der Verschwendung köstlicher Weine wollte mir zwar nicht einleuchten, aber bitte, wenn man das hier so macht. In Ummendorf musste immer alles leergetrunken weden.

Bei den ersten drei, vier Sorten hielt ich mich dann auch noch an Richards Regeln. Aber mit jedem zusätzlichen Probierglas schwand meine Bereitschaft, nach einem Schluck aufzuhören und den Rest einem Spülbecken anzuvertrauen. Also trank ich. Und probierte. Und trank. Und irgendwann probierte ich nur noch zu trinken. Und war sturzbetrunken.

Weil dieser Zustand mangels Erinnerung im Nachhinein nur anekdotisch wiedergegeben werden kann, muss ich davon ausgehen, dass es Richard war, der mich nach einem feuchten Diensttermin wohlbehalten bei meiner Zimmervermieterin abgegeben hat.

So gesehen war meine erste Weinprobe ein voller Erfolg. Prost, Richard. Und: Danke!